Geldbörse
Knausriger Staat? Österreich müsse seine Sozialleistungen auf das Niveau der Armutsgefährdungsschwelle anheben, fordern Experten.
IMAGO/Fotostand / K. Schmitt

Es ist eine Figur, die nicht verschwinden will: Steht das Sozialsystem zur Diskussion, taucht immer wieder der Nutznießer in der "Hängematte" auf. Weil sich dank üppiger Leistungen gut leben lasse, so die These dahinter, zahle sich Arbeiten nicht aus.

Sieht so die Realität aus? Ein Blick in die Statistik legt das nicht nahe. Demnach steht und fällt der Wohlstand mit dem Erwerb: Wer keinen Job ausübt, ist einer viel höheren Gefahr ausgesetzt, zu verarmen.

Nachzulesen ist das im neuen Sozialbericht, den das grün geführte Sozialministerium am Dienstagabend präsentiert hat. Die dort ausgebreiteten Analysen bieten zwar keine abschließende Bilanz der Teuerungskrise, zumal die letztverfügbaren Zahlen von 2022 stammen. Doch immerhin lässt sich ein längerfristiger Trend ablesen.

201.000 Arme

Dieser offenbart keine sonderlichen Veränderungen: 201.000 Menschen, das sind 2,3 Prozent der Bevölkerung, gelten als sozial und materiell depriviert, was ein Indikator für absolute Armut ist. Der Anteil ist seit 2018 im Wesentlichen ebenso konstant wie jener der Armutsgefährdeten: 14,8 Prozent der Bevölkerung – das sind 1,3 Millionen Menschen – fallen in diese Kategorie.

Letzterer Indikator ist allerdings umstritten. Als armutsgefährdet gilt, wer über weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verfügt. Das sagt nichts darüber aus, ob jemand mit dem Geld auskommt oder nicht. Hebt der Staat etwa die Sozialhilfe an, steigt auch das Medianeinkommen – und damit wieder die Gefährdungsschwelle.

Arbeit ist keine hundertprozentige Garantie, nicht in diese Gruppe zu fallen: Acht Prozent von vier Millionen Personen im Erwerbsalter gelten als Working Poor, sind also trotz Ganzjahresjobs armutsgefährdet. Doch wer mindestens sechs Monate arbeitslos ist, hat mit 40 Prozent ein vielfach höheres Risiko.

Fehlende Gesundheit ist ein Grund, der vom Erwerb abhält, ein anderer der Nachwuchs. Je mehr Kinder, desto weniger arbeiten die Frauen, desto schlechter die finanzielle Lage: Ist die Frau nicht erwerbstätig, sind ein Viertel der Haushalte mit zwei Kindern und fast ein Drittel der Haushalte mit drei oder mehr Kindern armutsgefährdet.

Garantie auf Bildung und Arbeit

Was muss geschehen, um die Lage zu verbessern? Eine Expertengruppe hat für den Sozialbericht ein Konzept skizziert. Manches darin, wie der Ruf nach höheren Mindestlöhnen, liegt nicht in der Hand der Politik, anderes – der Ausbau der Kinderbetreuung – ist weitgehend Common Sense. Allerdings müssten sich dabei auch die Zugangsmöglichkeiten verbessern, sagt Silvia Rocha-Akis vom Wirtschaftsforschungsinstitut: Derzeit ist die Berufstätigkeit der Eltern ein Kriterium, ob die Kinder einen Platz bekommen oder nicht. Folglich seien Sprösslinge aus einkommensarmen Haushalten seltener in Kindergärten, Horten oder Ganztagsklassen anzutreffen als besser situierte Altersgenossen.

Eine an Langzeitarbeitslose gerichtete Arbeitsplatzgarantie in Form öffentlich finanzierter Jobs findet sich ebenfalls auf der Forderungsliste. Außerdem brauche es eine Versicherung der Care-Arbeit: Wer Kinder betreuen oder Angehörige pflegen muss, soll Anspruch auf Einkommensersatz und Zahlungen für die Pensionsversicherung haben – allerdings nur für eine Dauer, die den Wiedereinstieg ins Berufsleben nicht gefährdet.

Schließlich sollten alle Transferleistungen über das Niveau der Armutsgefährdungsschwelle gehoben werden. Die Sozialhilfe etwa, derzeit maximal 1156 Euro für Alleinlebende, müsste demnach auf zumindest 1392 Euro steigen.

Veto des AMS-Chefs

An dieser Stelle gibt es Widerspruch – nicht im Sozialbericht, sehr wohl aber bei der Präsentation im Wiener Museumsquartier. Armutsbekämpfung sei nicht so einfach, wie sie mitunter dargestellt werde, merkt der zur Diskussion geladene Johannes Kopf, Chef des Arbeitsmarktservice (AMS), an: Mit einigen der präsentierten Vorschläge habe er Schwierigkeiten.

Niedrige Ausbildung und weggebrochene Jobs seien nicht die einzigen Gründe für hohe Arbeitslosenraten, führt Kopf aus. Da und dort sei das schon auch damit zu erklären, dass der Unterschied zwischen Arbeitslosengeld und Aktiveinkommen zu gering sei: "In unserem schätzenswerten Versuch, Armut zu bekämpfen, haben wir teilweise auch Inaktivitätsfallen geschaffen."

Als Beispiel nennt er den gut gemeinten Passus, wonach das Arbeitslosengeld statt regulär 55 Prozent bei niedrigem Einkommen auch bis zu 80 Prozent des letzten Einkommens betragen kann. Inklusive des erlaubten Zuverdiensts kämen damit gar nicht so wenige auf mehr, als sie davor verdient hatten. Der Arbeitsanreiz bleibe da auf der Strecke, warnt Kopf: "Die Lösung der Probleme ist nicht trivial." (Gerald John, 10.4.2024)