Sich an der Umgebung zu bedienen, um gesund zu bleiben oder zu werden, kam in der Evolutionsgeschichte wohl schon sehr bald vor. Wahrscheinlich nutzen bereits frühe Gliederfüßer die chemischen Abwehrsubstanzen von Pflanzen, um sich Parasiten vom Hals zu halten, vermuten Wissenschafter. Kräutermedizin im weitesten Sinn könnte also tief im Tierreich verwurzelt sein.

Bei den Wirbeltieren haben sich "medizinische Erkenntnisse" jedenfalls in verschiedensten Varianten herumgesprochen: Viele Singvögel nutzen Ameisen oder die Blätter bestimmter Bäume, um die Milben in ihrem Gefieder loszuwerden. Lemuren auf Madagaskar wiederum behandeln Darmkrankheiten mit Tausendfüßern. Möglicherweise haben sich auch die frühen Menschen schon das eine oder andere abgeschaut. Fakt ist jedenfalls, dass sich in der Folklore viele Berichte über Heilpflanzen finden, die man durch die Beobachtung von Tieren entdeckt hat.

verletzter Orang Utan Rakus
Woher Rakus seine Wunde unter dem Auge hat, bleibt ein Geheimnis. Die Forschenden vermuten Kämpfe zwischen Männchen.
Foto: Armas / Suaq Project

Menschenaffen mit Kenntnissen

Die eindrucksvollsten Beispiele von Selbstmedikation im Tierreich findet man bei unseren nächsten Verwandten. Gorillas, Bonobos und Schimpansen nehmen häufig Blätter von Pflanzen zu sich, die zwar nicht besonders nahrhaft sind, dafür aber medizinisch relevante Substanzen enthalten. Bei einigen Schimpansen scheint besonders das Bitterblatt (Vernonia amygdalina) eine tragende Rolle bei der Behandlung von Wurminfektionen zu spielen. Die tropische Pflanze ist bekannt für ihre zahlreichen medizinisch relevanten Wirkstoffe.

Ein Novum in der Welt der tierischen Medizin ist allerdings das Verhalten eines wildlebenden Orang-Utans in einem geschützten Regenwaldgebiet im Norden der indonesischen Insel Sumatra: Der männliche Sumatra-Orang-Utan (Pongo abelii) hatte sich unter dem rechten Auge eine sicherlich schmerzhafte Wunde zugezogen – doch er wusste, wie man diese fachgerecht mit den Blättern einer Kletterpflanze behandeln muss.

Gerangel unter Männern

Das Tier hat von der Belegschaft der Forschungsstation von Suaq Balimbing in Süd-Aceh den Namen Rakus erhalten und ist einer von rund 150 Sumatra-Orang-Utans, die dort unter den neugierigen Augen zahlreicher Forschender leben. Woher der Orang-Utan seine Wunde hat, bleibt dennoch ein Geheimnis. "Wahrscheinlich hat er sie bei einem Kampf mit einem Männchen aus der Nachbarschaft davongetragen", vermutet Isabelle Laumer vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie (MPI-AB).

Die Kognitionsbiologin hat gemeinsam mit Caroline Schuppli (ebenfalls vom MPI-AB) und Kolleginnen und Kollegen von der indonesischen National-Universität die Eigenbehandlung von Rakus und ihre Effekte genau verfolgt und dabei Erstaunliches beobachtet. Wie das Team nun im Fachjournal Scientific Reports berichtet, begann Rakus drei Tage nach seiner Verwundung, gezielt Blätter der Lianenart Fibraurea tinctoria abzureißen und darauf herumzukauen.

Orang Utan Rakus geheilt
Die Behandlung hat geholfen: Wenige Wochen später ist die Wunde wieder völlig verheilt.
Foto: Safruddin

Weithin bekannte Heilpflanze

Die Pflanze mit dem lokal gebräuchlichen Namen Akar Kuning ist weithin für ihre schmerzlindernde und fiebersenkende Wirkung bekannt. "Sie werden in der traditionellen Medizin zur Behandlung verschiedener Krankheiten, darunter auch Malaria, eingesetzt", sagt Laumer. Chemische Analysen hätten Substanzen in den Pflanzen gefunden, die antibakterielle, entzündungshemmende und pilzhemmende Wirkung haben, so die Primatologin.

Rakus begnügte sich bei seiner Therapie freilich nicht mit dem Kauen der Blätter. Das entstandene Speichel-Blättersaft-Gemisch trug er auch immer wieder sorgfältig und genau auf die verletzte Stelle im Gesicht auf. Als letzten Schritt seiner Behandlung bedeckte er die Wunde vollständig mit den zerkauten Blätterresten. Die Beobachtungen in den folgenden Tagen zeigten keinerlei Anzeichen für eine Infektion der Wunde, nach fünf Tagen war die Wunde bereits geschlossen – und die Therapie somit ein voller Erfolg. Sechs Wochen nach der Behandlung ist kaum mehr etwas von der Wunde zu erkennen.

Tiefreichende Wurzeln

Wie Rakus zu seinen erstaunlichen medizinischen Kenntnissen gekommen ist, darüber kann das Team nur spekulieren. Das Verhalten schien jedenfalls beabsichtigt zu sein, meinen die Forschenden. Es könne vorkommen, dass die Tiere beim Fressen dieser Pflanze eine Wunden berühren und dabei ihre schmerzlindernde Wirkung bemerken, so Schuppli. Möglich sei auch, dass Rakus seine Wundversorgungstricks von einer anderen Population hierhergebracht hat, denn geboren wurde das Männchen außerhalb dieser Region.

"Orang-Utan-Männchen verlassen ihr Geburtsgebiet während oder nach der Pubertät und legen dabei oft weite Strecken zurück", sagt Schuppli. "Daher kann es sein, dass dieses Selbstmedikationsverhalten in seiner Geburtspopulation weit verbreitet ist." Die Wurzeln dieses Verhaltens könnten aber durchaus tiefer reichen: "Da Formen der aktiven Wundbehandlung nicht nur beim Menschen, sondern auch bei afrikanischen und asiatischen Menschenaffen zu finden sind, ist es möglich, dass es einen gemeinsamen zugrunde liegenden Mechanismus gibt", sagt Schuppli. "Es könnte bedeuten, dass bereits unser letzter gemeinsamer Vorfahr ähnliche Formen des Verhaltens zeigte." (Thomas Bergmayr, 2.5.2024)