Wie geht es der Lyrik in diesen prosaischen Zeiten? Wie steht’s um die Poesie in all ihren Spielarten (visuelle, schriftliche, digitale, analoge Poesie usf.)? Wie schlagen sich die, die den Umgang mit ihr vermitteln, durchs Leben? Vielleicht stehen die Dinge nicht zum Allerbesten. Ansonsten hätte der renommierte US-Autor Ben Lerner (Die Topeka-Schule) kaum ein Buch mit dem plastischen Titel Warum hassen wir die Lyrik? (2021 in der Edition Suhrkamp) publizieren können, in welchem er markig postuliert: "Darin, dass sie Lyrik hassen, sind sich viel mehr Menschen einig, als sich darüber einigen können, was Lyrik überhaupt ist." Und noch etwas gilt es zu wissen: Wie kann just ein Comiczeichner einer Institution vorstehen, die sich die Lehr- und Lernbarkeit von Literatur auf die Fahnen geschrieben hat?

Nicolas Mahler (links) und Fritz Ostermayer.
Plädieren beide für eine Schule für Dichtung ohne Noten und Zwänge, die Einblicke vermittelt, aber niemandem eine Arbeitsweise aufzwingt: der Comiczeichner und neue Intendant Nicolas Mahler (links) und sein Vorgänger, der Autor, DJ, Musiker und Radiomacher Fritz Ostermayer
Foto: Christian Fischer

Zu einer kleinen Erörterung des poetischen Fragenkatalogs habe ich Kontakt mit zwei Leuten aufgenommen, die sich da auskennen: Nicolas Mahler, vielprämierter und bei Suhrkamp verlegter Kult-Comiczeichner aus Wien, sowie Fritz Ostermayer, Kultradiomacher, Kult-DJ und Kultmusiker. Einen aktuellen Anlass für das Gespräch gibt es auch. Wir müssen über die Schule für Dichtung (SfD) in Wien reden. Denn in den vergangenen Wochen hat Ostermayer in einem sanften Übergangsprozess seine Rolle als SfD-Intendant, die er seit 2012 innehatte, an Mahler abgetreten: "Nach elf Jahren war es für mich genug. Eh zu spät. In solchen Funktionen wäre es schon nach fünf Jahren Zeit für eine Blutauffrischung."

Das Wort Blutauffrischung passt, "Machtwechsel" wäre deplatziert. Macht im landläufigen Sinn hat die SfD keine. Wohl aber ist mit ihr zu rechnen, wenn es um beharrliche poetische Aktivitäten geht. Sie wurde 1991 von Autoren und Autorinnen aus den Bereichen Lyrik, Performance und experimentelle Sprachkunst gegründet, mit dem 2012 verstorbenen Lyriker Christian Ide Hinze als einer der treibenden Kräfte. Und Hinze war nicht nur Dichter, sondern auch ein Genie im Geldauftreiben. Sein Nachfolger Ostermayer erinnert sich: "Der ist dem Bürgermeister Zilk so lange auf die Nerven gegangen, bis der zu seinen Leuten gesagt hat, ,Gebts dem Ide Hinze wos, gebts eam wos‘, damit er endlich seine Ruhe hatte." Wer sich seither in Wien auf Suche nach Inspiration von Kreativköpfen begab, den hat die SfD jahrzehntelang zuverlässig und hochklassig bedient: Nick Cave unterrichtete hier so wie unzählige andere Kapazunderinnen und Kapazunder: Ilija Trojanow, Blixa Bargeld, Konstantin Wecker, Henri Chopin, H. C. Artmann, Wolfgang Bauer, Ann Cotten, Falco, Bodo Hell, Gert Jonke, Friederike Mayröcker, Gerhard Rühm, Sibylle Berg, Allen Ginsberg, Ed Sanders und so fort (ausführliche Liste auf sfd.at, der Website der SfD, und nicht einmal die ist vollständig). Die SfD verdient mit Fug und Recht das Prädikat einer Wiener Institution. Und sie hat ihre eigene Philosophie und ihre eigene Zeiteinteilung.

OSTERMAYER "Zwölf Stunden pro Kurs, auf eine Woche verteilt, nie mehr als acht Leute pro Klasse. Am Schluss Präsentation. Bei Creative-Writing-Kursen oder wenn du am Literaturinstitut in Leipzig studierst, kriegst du am Schluss ein Diplom, dass du Schriftsteller bist. Zu uns kommen die Leute nicht wegen einem Wisch, sondern aus Interesse. Es ist nicht das Ziel, dass du vom Schreiben wirst leben können. Die Schule ist ein Labor, eine Spielwiese, es gibt keinen Zwang, keine Noten."

MAHLER "Das ist ja überhaupt die ideale Schule. Fängt um fünf Uhr am Nachmittag an (wegen der Berufstätigen). Du hast einen Lehrer, den siehst du eine Woche lang und dann nie wieder. Eine Woche ist absolut ausreichend, dass man sieht, aha, so könnte man das machen oder auch so oder ganz anders. Man bekommt einen Einblick, wird aber nicht geschädigt, indem man eine Arbeitsweise aufgedrückt kriegt. Ich bin gegen das Meisterklassenprinzip."

Dass bei der Bestellung der neuen SfD-Spitze die Wahl auf einen Comiczeichner fiel, erstaunte zuerst ein wenig, nicht zuletzt Mahler selbst: "Ich war der Meinung, das sollte eine Frau werden. Darum habe ich mich am Anfang geziert." Aber zieren hin oder her, Ostermayer war anderer Meinung und setzte sie durch.

OSTERMAYER "Die Idee war schon, einen Unbefugten oder eine Unbefugte zu suchen, nicht unbedingt jemanden vom dichtenden Fach, sondern jemanden, der in der Dichterschaft vielleicht sogar etwas aneckt. Als ich es wurde, war ich ja auch ein Unbefugter, und mir ist zugetragen worden, dass es hieß: Wieso der? Nun, weil das in der SfD eben geht, und so wie ich eine Hip-Hop-Schiene eingeführt habe, kam mir die Idee, dass ein Comicautor, der aber total literaturaffin ist, vielleicht ein sehr, sehr guter Nachfolger wäre. Einer, der das Visuelle hereinbringt. Was aber nicht heißt, dass die Schule für Dichtung jetzt zu einer Schule für Graphic Novel wird."

Als ich die Herren im rammelvollen Café Westend treffe, kommt Mahler eben aus Paris zurück, wo er öffentlich über seine jüngsten Werke gesprochen hat, zwei Buchbeiträge zum Kafka-Jahr (Komplett Kafka und Kafka für Boshafte). Er lehrt und trägt auch in der Schweiz, in Japan oder allen möglichen anderen Ausländern vor, ist also das, was man gemeinhin arriviert nennt, eine Seltenheit auf dem Comicsektor, der überlaufen ist und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, finanziell wenig abwirft. "Comics haben eine Auflage von tausend Stück, zweitausend ist schon viel", meint Mahler. Er fühlt sich an die von Hans-Magnus Enzensberger entdeckte "Lyrikkonstante" erinnert: "Egal, welche Art von Lyrik du schreibst, du verkaufst immer 1328 Bücher. Und es ist einige Zeit her, seit Enzensberger das gesagt hat. Heute verkaufst du eher 847 Stück."

Begonnen hat seine Karriere auch in dieser Zeitung. In den wilden Frühjahren des STANDARD pochte Mahler an die Tür, bot Kinderrätsel an, die auf der Kreuzworträtselseite erschienen. Allerdings verlief sein Engagement hierorts nicht linear, sondern im On-und-off-Modus. "Man hat mich engagiert, wieder rausgeworfen, dann angerufen, ob ich doch etwas machen wolle, wieder rausgeworfen, und so ging es dahin. Ist lange verjährt." (Im ALBUM gepflegt wurde das Comicgenre später vom Künstler Walter Schmögner, dessen "Comix" über viele Jahre hinweg erschienen, Anm.)

Zwischen dem Verfertigen von Lyrik und dem von Comics, der Beschäftigung, die er immer angestrebt hat, sieht Mahler durchaus Parallelen. Es gibt ähnliche künstlerische Verfahrensweisen.

MAHLER "Mir ist die Lyrik näher als der Roman (was ihn nicht hinderte, den "Mann ohne Eigenschaften", die "Suche nach der verlorenen Zeit" und den "Ulysses" in sein zeichnerisches Universum hereinzuholen, Anm.), weil eben Comic auch sehr stark verkürzt und verknappt, das bin ich gewohnt. Mir fällt es leichter, Lyrik zu machen, als Lyrik zu lesen. Das ist eigentlich die ideale Arbeit – weil man so lange feilen kann an jedem Wort, und beim Comic feilst du auch an jedem Wort. Das ist mir näher als das Geschwafel in der Prosa."

Ostermayer fällt ein: "Gibt’s denn in der Lyrik nicht auch jede Menge Geschwafel?" Nun ja, das gibt es, aber auch substanzreiche, imposant-breitbrüstige Wortflüsse, deren Bedeutung sich nicht gleich erschließt. Mahlers nächstes Buch wird im Dezember erscheinen und sich, aus Anlass von deren 100. Geburtstag, mit der großen Friederike Mayröcker beschäftigen.

MAHLER "Mayröcker ist auch sehr lustig. Einerseits hat man das Gefühl, sie lässt alles raus, dafür lebt sie ja, andererseits muss jedes Wort einen Grund haben, warum es auf seinem Platz steht. Sie kümmert sich überhaupt nicht um Verkauf und Kommerz, sie schreibt Poets Poetry. Wenn man das liest, ist das nicht leicht zu durchschauen."

Mit seinem Sinn für das Experimentelle, Widerborstige, Krude reiht sich Mahler in der SfD in eine Tradition ein, die bereits von Ostermayer liebevoll gepflegt wurde.

OSTERMAYER "Ich hatte einen schlechteren Start als Ide Hinze, der glaubte noch an Avantgarde-Ideen, an Manifeste, an ein gemeinsames Stoßrichtungsdenken. Ich glaube das alles nicht mehr. Nach dem Tod aller Avantgarden können wir nur mit den Brosamen arbeiten, die sie uns überlassen haben. Ich habe als Literaturinteressierter nach einer neuen Stoßrichtung gesucht, aber nichts gefunden außer meine eigenen Idiosynkrasien. Und die lagen immer schon weniger bei der realistischen Literatur, sondern bei den Franzosen, bei der Oulipo, der Werkstatt für potenzielle Literatur, mit Georges Perec als überlebensgroßem Repräsentanten. Man schränkt sich ein, man sucht sich einen Käfig, sucht die Freiheit eines Korsetts. Der schöne Satz von Oskar Pastior ‚Erst im Korsett fühl ich mich frei‘ ist mir sehr einsichtig. Die Idee, dass man Realismus durch künstlerische Strategien ersetzt, ist mir nach wie vor sehr sympathisch."

MAHLER "Das ist interessant, eine solche Bewegung wie Oulipo gibt es auch bei den Comiczeichnern, dort heißt sie Oubapo. Man arbeitet mit einer beschränkten Anzahl von Panels oder hat die Auflage, eine Geschichte zu zeichnen, die man von vorn nach hinten und von hinten nach vorn lesen kann. Ich habe einmal etwas Ähnliches gemacht und 16 Zeichnungen, die einer niederländischen Comicserie nachempfunden waren, an Literaten wie Clemens Setz, Andrea Grill oder Dietmar Dath verschickt, die sie beliebig anordnen und eine Story dazu erfinden konnten."

"Comic goes Literatur" war der Slogan, mit dem das Buch Dick Boss damals, 2010, erfunden wurde. Er könnte jetzt vielleicht auch als ein Motto über der SfD stehen. Der Übergang von der Ära Ostermayer zur Ära Mahler wird am 13. Juni im Café Fluc mit einer großen Sause zelebriert. Man darf sich vom neuen Herren des Hauses sehr viel Spannendes erwarten, nur eines nicht: "Ein so ein begnadeter Conférencier wie Fritz werde ich niemals sein." (Christoph Winder, 20.4.2024)