Das Agendasetting ist der Volkspartei gelungen. Aber das war's dann auch schon. Sei es aus Uninformiertheit oder als geplante Vernebelung – man könnte auch sagen, aus Dummheit oder Bosheit –, die ÖVP macht aus einem diskussionswürdigen konzeptionellen Ansatz ein Panini-Album aus Volks-Rock-'n'-Roll und Schweinsschnitzel mit Preiselbeeren.

Wiener Schnitzel
Was macht eine Leitkultur aus? Und brauchen wir die überhaupt? Und wenn ja, gehört Schnitzel mit Preiselbeeren dazu?
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Der Begriff der Leitkultur ist schlecht gewählt, weil er nahelegt, dass einer autochthonen Kultur die Funktion eines Leitbilds angemessen wird, das als Maßstab für das Handeln herangezogen werden soll. Eine Anleitung für individuelles Verhalten, die ein pflegliches Miteinander ermöglichen soll. Der Begriff Leitkultur scheint einen Kulturpluralismus auf Augenhöhe auszuschließen und eine bestimmte Kultur als Kokille zu fördern, an die sich abweichende Kultur anzupassen hat. Dass dieser Prozess der Hierarchisierung das vorherrschende Bild sein dürfte, legen auch jene nahe, die sich über den Vorstoß der ÖVP (durchaus trefflich) lustig machen, aber gleichzeitig versuchen, den Gedanken einer Leitkultur über das bloße Vorhandensein anderer Kulturen auszubremsen, indem sie brav aufsagen, was nicht alles schon Teil unserer Kultur ist: vom Donut bis zum Döner, von Halloween bis Ramadan.

Die Existenz einer polykulturellen und damit auch multimoralischen Gesellschaft ist europäische Realität. Dazu braucht es keine Migration. Das Infragestellen und die Abwendung von ideologisch geprägten Wertvorstellungen finden auch innerhalb freiheitlicher Gesellschaften statt. Ihre Traditionen sind aber nicht zwingend an die Werte gebunden. An der schwindenden religiösen Rückbindung lässt sich das am ehesten festmachen: Das christlich-jüdische Erbe wird von dem Drittel der Bevölkerung, das in Österreich konfessionsfrei ist, nicht als primär identitätsstiftend wahrgenommen. Das bedeutet aber nicht, dass sie auf dieses Erbe verzichten müssen. Die schönen Kirchen, die von unseren urfachen Großeltern gebaut wurden, gehören uns allen, auch wenn wir uns persönlich vom Glauben befreit und für das Wissen entschieden haben.

Überholter Begriff

Die Wortwahl des deutschen Politologen Bassam Tibi wirkt aus heutiger Sicht ein wenig überholt, wenn er von Multikulti und europäischer Identität spricht. Das gilt auch für den Begriff der Leitkultur, den er in den 1990er-Jahren in die politische Debatte eingeführt hat. Er hätte seinem Konzept einen unmissverständlicheren Namen geben sollen, Kulturkern oder noch besser Wertekern als Bündel an Prinzipien, die wir unserer Gesellschaft unteilbar zugrunde legen. Wesentlich ist naturgemäß, was er damit meint: "Zum inneren Frieden einer Gesellschaft gehört die Akzeptanz einer Leitkultur, die Orientierung für ein demokratisches Gemeinwesen bietet, dessen Angehörige unabhängig von ihrer Herkunft und Religion säkulare Normen und Werte als Voraussetzung für den inneren Frieden teilen." Viel davon ist in der Charta der Menschenrechte und in Grundgesetzen abgebildet, aber offensichtlich reicht es in der Praxis nicht aus – auch weil sich die europäischen Staaten in wesentlichen Punkten selbst nicht an ihre Verfassungen halten.

Tibi empfiehlt: "Die Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der kulturellen Moderne entspringen, und sie heißen: Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft." Es ist kein Zufall, dass Religion einen guten Teil dieses Forderungskatalogs einnimmt, auch wenn viele die berechtigte Ansicht äußern, dass sie in der Gesellschaft und Politik kaum mehr eine Rolle spielt – zumindest gibt es keinen direkten, also zwingenden Einfluss der Institutionen, die tatsächlich weitgehend, wenn auch nicht vollständig (insbesondere im Bildungsbereich) getrennt sind. Das Versäumnis, eine Feuermauer zwischen Ideologie und Politik einzuziehen und stattdessen Ausnahmen im Widerspruch zu grundrechtlichen Bestimmungen zu gewähren, multipliziert die multikulturellen Begehrlichkeiten. Staatliche Äquidistanz zu Weltanschauungen wird auch in vielen anderen europäischen Staaten dadurch geschaffen, dass alle die gleichen Extrawürste kriegen sollen. Dieser Kulturrelativismus funktioniert in der Praxis nicht, weshalb zur Basis einer im Konsens geteilten Leitkultur für Tibi eben auch Laizität zählen muss.

Was dazu zählt ...

Der Staat darf einzelne Weltanschauungen weder bevorzugen noch benachteiligen, und nicht für jeden Unsinn müssen Ausnahmen von sonst allgemeingültigen Gesetzen geschaffen werden, im Gegenteil: Der Staat muss auf der Einhaltung der basalen Spielregeln beharren.

Eine Gesellschaft, die in ihren Weltanschauungen, Traditionen und Ausdrucksformen immer vielseitiger wird, braucht tatsächlich so etwas wie einen Kulturkern, ein Set an Grundregeln, die von allen akzeptiert werden. Die Debatte, was dazu zählt, soll auch geführt werden, und dabei sind zwei Dinge separat zu klären. Erstens muss ein formaler Konsens über das Wesen einer Leitkultur, eines Wertekerns gefunden werden. Was bringt sie uns als Gesellschaft? Wenn das akzeptiert ist, kann zweitens diskutiert werden, welche Prinzipien dieser Wertekern enthalten soll. Es besteht kein Grund, jene umstandslos anzunehmen, die Tibi formuliert hat, aber sie bieten eine brauchbare Arbeitsgrundlage.

... und was nicht

Wichtig ist auch festzuhalten, was nicht in die Definition einer Leitkultur fällt: nämlich konkrete traditionelle Handlungen und kulturelle Ausdrucksformen. Die werden gegen die ausformulierten Prinzipien abgeglichen, die keine bürgerlichen Handlungsanleitungen sind, sondern vielmehr eine Hausordnung für den Staat an sich darstellen. (Niko Alm, 3.4.2024)