Zwischen Traum und Wahnsinn: Der Film
Zwischen Traum und Wahnsinn: Der Film "Io Capitano" schildert die Odyssee einer Flucht.
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Als Musiker die Bühnen Europas zu bevölkern ist Seydous und Moussas größter Wunsch. Gemeinsam wollen die Jugendlichen ihr Leben im senegalesischen Dakar gegen Starruhm auf dem fernen Kontinent eintauschen. Der neue Wohlstand soll auch der Familie helfen, aber genau die darf von der Mission nichts mitbekommen. Daher legen die beiden Cousins heimlich Geld zur Seite, schwingen sich in einen Bus und machen sich auf die Reise.

Doch es wird nicht das Abenteuer, das die 16-Jährigen im Sinn hatten. An der Grenze zum Niger müssen Seydou und Moussa den Kontrolleur bestechen, da ihre gefälschten Pässe aufgeflogen sind. Sie klammern sich an Holzpflöcken fest, weil die Schlepper nicht anhalten, wenn bei der holprigen Sahara-Durchquerung jemand von der Ladefläche fällt. Nachdem sie von Rebellen ausgeraubt und entführt wurden, kämpfen sie getrennt voneinander ums Überleben.

Mit Sneakers durch die Wüste: Hält das Ziel Europa, was es verspricht?
Mit Sneakers durch die Wüste: Hält das Ziel Europa, was es verspricht?
AP/Greta De Lazzaris

Realistisches Fluchtdrama

Mit seinem Film Io Capitano gelang es dem italienischen Regisseur Matteo Garrone (Gomorrha, Dogman), die Schrecken der Flucht anschaulich auf die Leinwand zu bringen. Er stützt sich auf Erfahrungsberichte von Flüchtlingen und gibt polarisierenden Schlagzeilen sowie politisch aufgeladenen Debatten rund um Flüchtlingsströme ein Gesicht. Das brachte ihm bei den 80. Filmfestspielen von Venedig den Preis für die beste Regie ein, bei den Oscars 2024 war das Drama in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film nominiert.

Die europäische Perspektive lässt Garrone dabei außen vor. Seydou und Moussa haben zwar schon allerhand über dieses Europa gehört, das die Menschen auf der Straße schlafen lässt und das gar nicht so toll sein soll wie in den Filmen. Im Fokus stehen aber nicht ihre Erlebnisse mit den Grenzen europäischer Gastfreundschaft, sondern ihre Erfahrungen auf der Flucht und die Frage, ob sie es bis an ihr Ziel – Italien – schaffen.

Io Capitano - Official Trailer in HD
Pathe

Mit den Laienschauspielern Seydou Sarr und Moustapha Fall (Moussa) traf Garrone eine vortreffliche Wahl. Glaubhaft mimen sie die unbedarften Teenager, die vom großen Los träumen und wenig später in menschliche Abgründe blicken. Das wird auf der Bildebene verstärkt: In glänzenden Sneakers marschieren sie in der Kolonne durch die von Leichen gesäumte Wüste Richtung Libyen. Als sich Seydou, getrennt von Moussa, im libyschen Gefängnis mit Foltermethoden konfrontiert sieht, ist von seiner Erwartungshaltung nicht mehr viel übrig. Stattdessen zoomt die Kamera auf ein von Wunden entstelltes Gesicht. Zu Recht wurde Seydou Sarr in Venedig als bester Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet.

Surreale Traumbilder aus Seydous Perspektive lockern die schwer verdauliche Szenerie auf. Als eine Frau beim Marsch durch die Wüste zusammenbricht, eilt er ihr als Einziger zu Hilfe. Seine Mühen sind vergeblich, doch wenig später schwebt sie an seiner Hand durch die Luft. Das Fliegen: Ausdruck des jugendlichen Unvermögens, den Tod zu verkraften? Oder Zeichen der versprochenen Freiheit, das erst nach dem Lebensende eingelöst werden kann? (Patricia Kornfeld, 6.4.2024)