Ein Ölgemälde von Jesus mit erhobener Hand und Menschen, die in Deckung gehen.
Die Tempelreinigung aus der Bibel zeigt Jesus von Nazareth wütend. Dieses Bild findet sich besonders prominent in den Kindheitserzählungen.
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Die Bibel, genauer gesagt das Neue Testament, erzählt die Geschichte des Jesus von Nazareth. Sie beginnt mit den Umständen seiner Geburt und endet mit seinem Tod am Kreuz. Doch bei genauerer Betrachtung ist diese Beschreibung unvollständig: Wir sehen Jesus als Neugeborenen. Wer sich fragt, was er für ein Mensch war, hört hauptsächlich Geschichten eines Mannes in seinen Dreißigern, abgesehen von einer Episode von Jesus im Alter von zwölf Jahren. Die Kindheit fehlt in der Bibel.

Die Suche nach Informationen über die Kinderjahre von Jesus führt zurück zu den Ursprüngen der Bibel und zu einigen der sonderbarsten Texten der christlichen Mythologie, die sich trotz Verboten großer Beliebtheit erfreuten.

Kindheits-"Evangelium"

Die Kindheitsgeschichten über Jesus gehören zu den sogenannten Apokryphen. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und bezeichnet "Verborgenes". Da Jesus von Nazareth selbst keine Schriften hinterließ, setzt sich die christliche Glaubensschrift aus gesammelten Erzählungen zusammen. Aufgeschrieben wurden sie mit Jahrzehnten Verspätung, als die frühchristliche Gemeinde feststellte, dass der Heiland nicht so bald zurückkommen würde wie anfangs erwartet.

Die Bibel enthält jedoch nicht alle bekannten Jesus-Erzählungen, sondern ging aus einem Auswahlprozess hervor, der Kanonisierung. Der Prozess erstreckte sich über Jahrhunderte und ist selbst Gegenstand von Mythen. Um den Status der Bibel als Glaubensschrift zu rechtfertigen, muss aus theologischer Sicht ein Wirken des Heiligen Geistes bei der Auswahl der Schriften angenommen werden.

Erzählungen über die Kindheit von Jesus schafften es nicht in die engere Wahl. Eine Sammlung solcher Geschichten stammt aus der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts, wird einem gewissen Israeliten Thomas zugeschrieben und behandelt die Kindheit von Jesus bis zu seinem zwölften Lebensjahr.

Wunder und Aggression

Es handelt sich um eine lose Sammlung von Geschichten, die zum großen Teil von Wundern erzählen, bei denen es sich manchmal um Heilungen handelt. In diesem Sinn ähneln sie den Bibelerzählungen um den erwachsenen Jesus.

Doch es gibt Abweichungen, die ganz und gar nicht zu dem bekannten Bild von Jesus aus dem Neuen Testament passen. Als ein Kind beispielsweise einen von Jesus erbauten Damm an einem Fluss mutwillig zerstört und die aufgestauten Becken austrocknen, lässt Jesus den Jungen ebenfalls "austrocknen". Was damit gemeint ist, erläutert der Hinweis auf das Wehklagen über das Leben des Jungen, das so früh zerstört worden war.

Noch konkreter wird eine weitere Geschichte, in der Jesus von einem Kind angerempelt wird. Jesus sagt: "Du sollst deinen Weg nicht weitergehen", woraufhin das Kind hinfällt und verstirbt. Als sein Ziehvater Josef ihn deshalb auf Anraten der eingeschüchterten Gemeinde zur Rede stellt, verschont Jesus Josef nur gnadenhalber, lässt aber dessen Einflüsterer erblinden.

"Lass ihn nicht hinaus"

Jesus wird hier als jähzornig und nachtragend beschrieben, der "selten in christlicher Weise handelt", wie es der Bibelforscher Keith Elliott von der Universität Leeds ausdrückt. Andere vergleichen die Geschichten mit Satire. Das Bild zieht sich jedenfalls als roter Faden durch die Erzählungen. Einen Lehrer, der ihn schlägt, lässt er ohnmächtig werden, sodass er aufs Gesicht fällt. Der Jähzorn des jungen Jesus ist so berüchtigt, dass Josef einmal Maria bittet, ihn nicht vor die Tür zu lassen. "Denn die, die seinen Zorn erregen, sind des Todes."

An anderer Stelle steht diesen Taten durchaus mildes Wunderwirken entgegen. Als ein Junge namens Zenon von einem Dach fällt und tot ist, wird Jesus verdächtigt, ihn gestoßen zu haben. Jesus weckt den Gefallenen kurzerhand wieder auf, um sich von ihm vor versammelter Gemeinschaft entlasten zu lassen. Um Nächstenliebe geht es hier offenbar nicht. Andere Wundertaten aus diesen Jahren sind begleitet von der Forderung "denkt an mich".

Nur eine der Erzählungen findet sich tatsächlich in der Bibel wieder: Es ist jene des zwölfjährigen Jesus, der im Tempel die Schriftkundigen mit seiner Intelligenz beeindruckt.

Ochs und Esel sind fixer Bestandteil jeder Weihnachtskrippe, so wie hier auf dem Petersplatz im Vatikan. Sie stammen allerdings aus den sogenannten Apokryphen Schriften, die nicht in die Bibel aufgenommen wurden.
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Geschichte eines Kindsgottes

Die meisten der Kindheitsgeschichten stehen mit ihrer Drastik in starkem Kontrast zu den kanonischen Bibelerzählungen. Einen wütenden Jesus gibt es auch in der Bibel, als er die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel vertreibt und dabei gewalttätig wird, sie mit einer "Geißel aus Stricken" attackiert und Tische umwirft, aber sonst dominiert die Erzählung von Gewaltverzicht.

Vorbilder dafür gibt es in der antiken Literatur. Einerseits entspricht Jesus als Zwölfjähriger im Tempel dem "puer senex", einem "greisen Jungen", der zu klug für sein Alter ist. Diese Erzählung findet sich etwa in vielen Biografien von Königen aus der römischen Kaiserzeit und dem Hellenismus. Der Jähzorn hingegen erinnert an hinduistische und ägyptische Erzählungen über launische Kindsgötter, wobei ein tatsächlicher Zusammenhang nicht belegt ist.

Zahlreiche Versionen und Sprachen

Die Kindheitsgeschichten von Jesus sind heute wenig bekannt, waren aber beliebt und weitverbreitet. Es gibt sie in verschiedenen Versionen und Sprachen. Die Erzählung von der Erweckung der Tonvögel findet sich sogar im Koran wieder.

Die Kirchenleitung sah die Beliebtheit der Kindheitserzählungen über Jesus mit Argwohn. Mehrere Päpste sprachen sich dagegen aus, das Kindheitsevangelium nach Thomas wurde im sogenannten Decretum Gelasianum bereits im fünften Jahrhundert verboten.

Als Verbote nicht die gewünschte Wirkung hatten, wurde als Kompromiss im achten und neunten Jahrhundert eine Sammlung jener Geschichten herausgegeben, die harmlos genug für das gemeine Volk waren. Sie ist als "Pseudo-Matthäus" bekannt und konzentriert sich stark auf die Figur der Maria. Die Geschichten finden sich heute noch in den christlichen Traditionen. So sind etwa Ochs und Esel fixer Bestandteil vieler Weihnachtskrippen. In der Bibel sucht man sie vergeblich. (Reinhard Kleindl, 31.3.2024)