In der Sendung "Who's the Murderer" spielen die Kandidaten jede Episode ein "Jubensha".
Screenshot Youtube/ Mango TV

Was haben ein französisches Brettspiel aus dem Jahr 2001, ein aus dem südkoreanischen Fernsehen adaptiertes chinesisches Reality-TV-Format und eine Multimilliarden schwere Live-Entertainment-Branche miteinander zu tun? Erstaunlich viel, wenn man nur einen kurzen Blick auf die Unterhaltungsgewohnheiten der chinesischen Jugend wirft. "Jubensha" frei übersetzt "Morddrehbuch" hat sich zu einer der Lieblingsbeschäftigungen der Generation Z Chinas entwickelt. Nach Daten des chinesischen Marktforschungsinstituts iResearch ist "Jubensha" mittlerweile auf Platz drei der populärsten Freizeitbeschäftigung der Chinesen. Nur ins Kino gehen und Sport sind noch beliebtere Tätigkeiten. Ein kleiner Überblick über die neuartige und noch viel zu unbekannte Unterhaltungsform.

Der Tod trägt Weiß

Eine Box voll Hinweise trennt die Spieler von der Lösung des Falls.
boardgamegeek.com

"La mort s'habille de blanc" oder in der englischsprachigen Version "Death Wears White" ist ein über 20 Jahre altes französisches Brettspiel. Die Spieler schlüpfen hier in die Rolle von neun verschiedenen Figuren, die alle auf verschiedene Weise in den Mordfall eines beliebten Arztes in einem Detroiter Krankenhaus involviert sind. Eine Schachtel vorbereiteter Hinweise und mehrere Spielstunden später eröffnet sich einem, wer der wahre Mörder ist. Die Hauptspielmechanik liegt hierbei ganz klar in den Konversationen zwischen den Spielern. In Handouts wird einem die Hintergrundgeschichte des eigenen Charakters erklärt und auch, welche Informationen die Figur zum jeweiligen Zeitpunkt hat. Die Schwierigkeit besteht jetzt darin, in den Gesprächen neue Informationen zu erfragen, ohne sich als jemand, der zu viel weiß, zu erkennen zu geben.

So weit, so abendfüllende Unterhaltung, aber von "Death Wears White", was immer noch ein klassisch westliches Mördermysterium ist, zu dem chinesischen Entertainment-Phänomen ist es immer noch ein langer Weg. Dieser Weg hat jedoch mit dem Import dieses Brettspiels begonnen. Im Jahr 2013 erreichte eine Übersetzung den chinesischen Brettspielmarkt und konnte so hohe Wellen schlagen, dass etwa drei Jahre später das Reality-TV-Format "Who's the Murderer" aus der Taufe gehoben wurde. In dieser Serie treten verschiedenste chinesische Prominente Staffel für Staffel gegeneinander an. Jede Episode hat ihr eigenes Setting und ihre eigenen Figuren, in die das rotierende Ensemble an Stars schlüpfen kann. Gerade entsteht die neunte Staffel in nur acht Jahren.

Um das im Fernsehen gezeigte Erlebnis nachzustellen, entstanden in Rekordzeit in ganz China "Jubensha"-Lokale, die eigene Geschichten mit professionellen Game-Mastern anbieten, aber auch portable Spiellösungen, die zu Hause oder unterwegs gespielt werden können. Nach anfänglichem Fokus auf kriminale Narrative verbreiterte sich das Angebot an Erzählungen stark. Romantische, historische, aber auch rein patriotische Geschichten sind populäre Genres. Einzige Gemeinsamkeit: ein Mord als auslösendes Moment.

Vom Brettspiel zum Mainevent

Wie also funktioniert ein prototypischer "Jubensha"-Abend? Nach der Entscheidung, ob zu Hause oder in einem designierten Lokal gespielt werden soll, findet sich eine Gruppe aus sechs Personen zusammen. Entweder kennen sich die Partizipierenden schon, oder das Spiel dient als Chance, die anderen Spieler kennenzulernen. Ein Großteil der Spieler führt an, "Jubensha" wegen der sozialen Aspekte zu spielen. Meistens wird vom Spiel vorgegeben, dass jeweils drei männlich gelesene und drei weiblich gelesene Mitspieler die Rollen übernehmen. Hat sich die Gruppe gefunden, kann auch schon der "spannendste" Teil des Abends beginnen: Der Game-Master teilt Handouts aus, und die Spieler dürfen erst einmal eine halbe Stunde damit verbringen, sämtliche Informationen über das Setting und ihre Figuren zu lesen. Danach kann es endlich beginnen. In mehrstündigen Gesprächen werden Informationen geteilt, Beweise gesammelt und Anklagen geäußert, die am Ende zu Überführung des Übeltäters führen sollen. Ist man selbst der Täter, verändern sich die Konditionen für den Sieg natürlich. Man muss gezielt von der eigenen Schuld ablenken und immer nur so viel vom Sachverhalt preisgeben, wie absolut nötig.

Es gibt keine spezifischen Vorgaben an welchem Ort ein "Jubensha" gespielt werden kann. Vom eigenen Wohnzimmer bis zu eigenen "Jubensha"-Reiseerlebnissen ist alles möglich. Das Hotel Indigo Heilong Lake in der südwestlichen Sichuan-Provinz zum Beispiel ist eine Kooperation mit einem beliebten "Jubensha"-Anbieter eingegangen. Die Architektur und der Service des Hotels sollen das Erlebnis für die Spieler noch immersiver machen. Auch eigene "Jubensha"-Kreuzfahrten oder "Jubensha"-Freiluftmuseen, die ganze historische Dörfer nachbauen, wurden schon für den chinesischen Markt etabliert.

Eine Werbung einer chinesischen Reiseagentur für eine "Jubensha"-Kreuzfahrt.
Fliggy/Weibo

Nicht immer steht die Lösung des Mordes im Vordergrund. Oft, gerade bei den spezifischeren Genres, ist der Mord am Anfang nur ein kleiner Teil der Verstrickungen. Ein "Jubensha", das übersetzt den Titel "Hello" trägt, beinhaltet zwar einen Mord ganz am Anfang, erzählt aber eine Geschichte über drei Generationen einer einzigen Familie in "This is Us"-Manier. Hier steht dann nicht die Lösung des Falls, sondern die kollektive Erzählung der Narrative im Fokus. Quasi so, als würde man mit seinen Freunden die neuste Staffel einer amerikanischen Dramasendung im eigenen Wohnzimmer nachspielen. Mit dieser erzählerischen Bandbreite können westliche Kriminalspiele, wie etwa "Hidden Games" oder "Crime Files International", einfach nicht mithalten.

Regulationen und Zukunftsaussichten

Ein paar Jahre konnte die junge "Jubensha"-Industrie den Regulatoren der chinesischen Regierung entgehen. Zu jung und inhomogen war die Szene und zu schnell der Aufstieg in den popkulturellen Mainstream. Nach Jahren, in denen der Diebstahl von Skripts und Verletzungen des Jugendschutz wucherten, aber "Jubensha" auch einen in China ungewöhnlich liberalen Raum anbot, LGBTIQ-Themen auszuloten, wurde die Regierung im Jahr 2023 auf die Spielform aufmerksam und erließ einen Gesetzesentwurf zur Regelung. Laut dem Regelungsentwurf dürfen die Inhalte solcher Spiele nicht die traditionelle chinesische Kultur verunglimpfen oder unangemessene Materialien enthalten, die Obszönität, Glücksspiel, Drogen und andere Elemente beinhalten, die gegen moralische Standards verstoßen könnten. Queere Themen fallen nach den Moralvorstellungen der kommunistischen Partei auch unter diese "unangemessenen Materialien".

Aber nicht nur in China scheinen die Kriminalmysterien Gefallen zu finden, auch in Ländern mit chinesischer Bevölkerungsmehrheit, wie etwa Singapur, interessiert man sich für die Mordfälle. Nachdem in Singapur noch immer ein großer Teil an Menschen Englisch als Muttersprache spricht, ist das Land das Zentrum für englischsprachige Übersetzungen der chinesischen Drehbücher geworden. So ist die Zukunft dieser Gamedesign-Neuheit nicht allein an China gebunden und kann sich abseits der zensurlastigen Regulationen frei weiterentwickeln. (Georg Laurenz Dittlbacher, 2.3.2024)