Die STANDARD-Architekturexperten Wojciech Czaja und Maik Novotny
Wojciech Czaja und Maik Novotny sprechen in einer Doppelconférence über das komplett in Glas gehüllte Hochhaus.
Heribert Corn

Czaja: Da stehen wir also an diesem eiskalten Wintertag 2024 vor einem kürzlich eröffneten Glashochhaus namens VIO Plaza, und irgendwie habe ich das Gefühl, wir schreiben das Jahr 1994.

Novotny: Ich habe eigentlich ganz gute Erinnerungen an die 1990er-Jahre, aber diese Art der 1990er-Jahre wollen wir alle nicht noch einmal erleben! Warum stehen wir hier heute eigentlich zu zweit?

Czaja: Wir haben uns schon öfter über das Projekt unterhalten – und zwar nicht nur über die Architektur, sondern auch über die Entstehungs­geschichte. Und wir haben uns die Frage gestellt: Wie kann man so ein Ding in Zeiten von Klimakrise, Ressourcendebatte und einer generell zunehmendem Bausensibilität heute überhaupt noch bauen?

Novotny: Das VIO Plaza ist ja auch kein Einzelfall, sondern symptomatisch dafür, wie mancherorts Investoren und Developer den Bau der Stadt selbst in die Hand nehmen, quasi an den Interessen der Menschen vorbei.

Czaja: Was ist dein erster Eindruck?

Novotny: Direkt vor dem Haupteingang gibt es einen erstaunlich kleinen Vorplatz mit klobig betonierten Sitzbänken und quer davor die Abfahrt in die Tiefgarage – an einer denkbar ungünstigen Stelle, wie ein Brett, das man zwischen die Zähne gerammt bekommt. Daneben fahren täglich tausende Autos vorbei. Außerdem ist alles vollgestopft mit Stelen und Werbepylonen. Die Aufenthaltsqualität ist wirklich fragwürdig.

Czaja: Wenn man den Blick nach oben richtet, wird’s auch nicht besser. Das Projekt ist wild zusammengewürfelt. Hier ein rundes Hochhaus, dort ein eckiger Riegel, dazwischen eine Shoppingmall. Man hat das ­Gefühl, hier hätten drei, vier, fünf Architekten aneinander vorbeigearbeitet – ohne jegliche Koordination. Ein Architekt hat meines Erachtens auch eine ästhetische Verantwortung. Es ist seine Aufgabe, der Stadt Schönheit zu geben. Das ist hier nicht passiert.

Novotny: Das VIO Plaza veranschaulicht sehr gut die Fallhöhe zwischen dem Anspruch, etwas Besonderes zu sein, und der banalen Durchschnittlichkeit des gebauten Resultats. Hochhäuser wie dieses findet man weltweit hunderte Male – irgendwo in den Gewerbeparks von Valencia, Bukarest oder Houston.

Czaja: Wir wissen seit Jahren, dass gläserne Hochhäuser eine sehr problematische Bautypologie sind, wenn es darum geht, der Klimakrise zu begegnen und die Überhitzung in den Griff zu kriegen. Eine komplett in Glas gehüllte Baumasse ohne Rücksicht auf die Himmelsrichtung ist das Gegenteil von dem, was Architektinnen, Bauträger, Bauphysikerinnen, Developer und die EU-Taxonomie seit langer Zeit propagieren. Dieses Haus ist einfach nur anachronistisch.

Novotny: Ursprünglich hätte der Turm ja noch viel höher sein sollen, 120 Meter anstatt der 72, die er jetzt hat. Aufgrund der Schrumpfungsmaßnahmen, die unter anderem von der Unesco und der Icomos gefordert wurden, hat sich das Ganze nun zu einem gedrungenen Klumpen entwickelt, aus dem oben ein bisschen Hochhaus herausragt.

Czaja: Ein gläserner Klumpen mit Adipositas. Dieses Projekt deckt in allererster Linie immobilienwirtschaftliche Interessen ab. So hat ja auch alles begonnen, oder?

Ein Blick auf das VIO Plaza.
Heribert Corn

Novotny: Ja. Eine der Schlüsselfiguren in der Entwicklung des VIO Plaza ist der Wiener Architekt Peter Podsedensek. Er hat einen mehrfachen Wandel hingelegt – zuerst Architekt, dann Developer, dann Architekt, am Ende dann beides zusammen. Am Anfang stand sein indi­vidueller Wunsch, auf den Fiat-Gründen direkt neben dem Schönbrunner Schlosspark ein Hochhaus zu realisieren. Diese Idee ging aus nachvollziehbaren Gründen nicht auf. Also hat er seine Aufmerksamkeit auf die wenige Hundert Meter entfernten Komet-Gründe gerichtet. Die HPD-Holding hat die Grundstücke Anfang der Nullerjahre aufgekauft und einen Wettbewerb ausgeschrieben.

Czaja: Und jetzt wird’s interessant! Denn Peter Podsedensek war damals Geschäftsführer der HPD-Holding, ist kurz vor dem Wettbewerb jedoch aus dem Unternehmen ausgeschieden und hat sich daraufhin das Mäntelchen des Architekten angezogen, um an jenem anonymen Wettbewerb teilzunehmen, den er kurz zuvor selbst konzipiert hatte. Wir wollen hier nichts hineininterpretieren, aber wir stellen fest: interessant, dass ausgerechnet Podsedenseks Entwurf von der Jury zum besten der insgesamt sechs eingereichten Projekte gekürt und somit zur Realisierung empfohlen wurde.

Novotny: Mit dem Ergebnis müssen wir jetzt alle leben – und das für viele Jahrzehnte.

Czaja: Es gab eine Bürgerinitiative, die jahrelang gegen das Projekt gekämpft hat. Du warst mit Floren­tine Maier, einem Mitglied der Initiative, im Gespräch. Was hat sie dir erzählt?

Novotny: Diese Bürgerinitiative war sehr sachlich und professionell aufgestellt. Die Initialzündung war die Präsentation des Projekts nach dem Wettbewerb. Damals wunderten sich einige Anrainer, dass ihre Wohnhäuser im Modell gar nicht mehr zu sehen waren. Sie waren schon präventiv verschluckt worden. Die Bürgerinitiative hat die ­Abrisse zwar nicht verhindern können, aber sie hat immerhin eine deutliche Reduktion in der Höhe ­erreicht.

Czaja: Was waren die größten Kritikpunkte der Bürgerinitiative?

Novotny: Vor allem die Nutzung und der Verkehr. Eine Tiefgarage mit 456 Stellplätzen und ein Shoppingcenter – aus ihrer Sicht im 21. Jahrhundert reinster Unfug. Erstens wegen des zunehmenden Onlinehandels und zweitens wegen der Meidlinger Hauptstraße ums Eck, die wie viele Wiener Einkaufsstraßen eh schon ums Überleben kämpft.

Czaja: Stadt ist ein sich ständig verändernder Kosmos, und anstatt darauf zu reagieren, wurde hier eine Planungs- und Denkweise der 1990er-Jahre mit 30-jähriger Verspätung umgesetzt. Wie können wir solche Unfälle in Zukunft vermeiden?

Novotny: In Wien gibt es eine Fehlstelle, was den Städtebau betrifft. Die Wünsche von Investoren nach langem Hin und Her in einen Bebauungsplan zu gießen, dessen Kubatur dann einfach vollgestopft wird – das ist kein Städtebau!

Czaja: Es bräuchte auch mehr Transparenz, was die städtebaulichen Verträge betrifft. Diese gelten heute immer noch als privatrechtlich und sind daher öffentlich nicht einsehbar. Ein Fehler! Die Stadt ist keine juristische ­Privatperson, sondern eine öffentliche Institution.

Novotny: Auch die Entscheidungskompetenz in puncto Mobilität muss dringend weg von den Bezirken. Immer wieder torpedieren Bezirksvorsteher die eigentlich ambitionierten Pläne der Stadt, weil sie denken, sie müssten sich heldenhaft vor jeden einzelnen Parkplatz werfen. Das geht einfach nicht. Aber jetzt frage ich dich: Wäre so eine Entstehungsgeschichte wie jene des VIO Plaza heute noch denkbar?

Czaja: Wenn ich mir die Entwicklung der Debattenkultur und die Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft anschaue, habe ich das positive Gefühl, dass wir heute schon sehr viel weiter sind. Wir stimmen darin überein, dass wir solche Projekte und solche Prozesse nicht mehr wollen. Gleichzeitig habe ich die Befürchtung, dass so etwas – vorausgesetzt, die Übeltäter sind geschickt genug – heute immer noch möglich ist.

Novotny: Siehe Signa!

Czaja: Und ich habe noch einen emotionalen Wunsch. Es sollte um jeden Preis unmöglich gemacht werden, so große Projekte an so prominenten Standorten zu errichten, die einzig und allein den Architekten und den Developer glücklich machen – und alle anderen Menschen und deren Interessen ignorieren.

Novotny: Ein schönes Schlusswort. (Maik Novotny, Wojciech Czaja, 28.1.2024)