Auch in Österreich bereiten sich Firmen auf neue Reportingvorschriften vor, die einer ökologischeren und sozial verantwortlicheren Wirtschaft dienen sollen. Darüber wird viel geklagt. Unternehmensrechtlerin Susanne Kalss hat dazu eine klare Meinung.

Rechtsprofessorin Susanne Kalss am WU Campus in Wien
"Ungeheure Regelungslast, enorme Bürokratie": Unternehmensrechtlerin Susanne Kalss sieht im ESG-Regime zuallererst eine Bürokratiekrise für europäische Unternehmen.
WU

STANDARD: Unternehmen ächzen derzeit unter der Last neuer Reportingvorschriften. Was ist wirklich dran?

Kalss: Derzeit nehmen zwei neue Regelwerke die volle Aufmerksamkeit von Unternehmen in Anspruch. Zum einen ist das die Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung; sie wird die Unternehmen schon ab dem Geschäftsjahr 2024 voll treffen. Zum anderen scharrt die Richtlinie über die Lieferkettensorgfaltspflichten in den Startlöchern. Sie soll noch bis zu den Europawahlen beschlossen werden. Die darin geregelten Anliegen sind gut und nachvollziehbar. Die Nachhaltigkeitsberichterstattung wird Unternehmen verpflichten, neben finanziellen Daten (Gewinn, Umsatz, Fremdkapital) auch eine Vielzahl nichtfinanzieller Daten ihrer Tätigkeit anzugeben und transparent zu machen, etwa die Art ihres Energieverbrauchs. Sie müssen nicht nur über sich selbst berichten, sondern zugleich auch die Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf die Umwelt angeben. Das ist völlig neu und faktisch kaum leistbar. Die Unternehmen verheddern sich gerade in hunderte Seiten langen "Standards", Berichtsvorgaben.

STANDARD: Als schwierig wird vor allem auch die Lieferkettenverordnung gesehen, die Firmen für die Einhaltung von Standards in der gesamten Kette verantwortlich macht. Das ist doch aber eine gute Sache, oder?

Kalss: Die Anliegen sind klar und nachvollziehbar. Aber der Weg, wie er eben von Deutschland und Frankreich und künftig auch von der EU und damit Österreich eingeschlagen wird, ist völlig falsch! Europäische Unternehmen werden von einer geradezu ungeheuerlichen Lawine von Regelungen und bürokratischen Vorgaben überrollt. Neben den schon genannten neuen Berichtspflichten haben sie selbst, ihre Tochtergesellschaften und ihre Lieferanten und Vertragspartner über 50 verschiedene – unklar formulierte – Menschenrechtsübereinkommen und Umweltkonventionen einzuhalten. Was eigentlich der Staat machen soll, nämlich Schaffung und Sicherung der Einhaltung von Gesetzen (Arbeitsschutz, Bodenschutz), wird auf die Unternehmen überwälzt! Sie sollen sich darum kümmern, dass nun alle ihre Geschäftspartner die Regeln einhalten! Die Regelungen unterscheiden nicht, ob die Gesellschaften und Tochterunternehmen in Österreich, in der Europäischen Union oder sonst in irgendeinem Land auf dieser Erde, etwa in Kamerun oder Indien, tätig sind. Vielmehr wird diese bürokratische Vorgabe, Einhaltungs- und Kontrollpflicht, auf alle im Handel beteiligten Unternehmen ausgedehnt! Es kommt so zu zahlreichen Doppelungen. Die Unternehmen müssen neue Abteilungen aufbauen, um die Daten zu ermitteln, Verhaltenskodizes zu entwerfen und Überwachungsprozesse zu etablieren, alles ohne die Produktion unmittelbar zu verbessern. Kein Baum wird dadurch weniger gefällt, keine Arbeitsstunde wird weniger gearbeitet, und kein SicherheitsStandard wird dadurch besser eingehalten.

STANDARD: Wer profitiert also tatsächlich?

Kalss: Offen gesagt: die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Pakistan oder Marokko kaum. Aber es gibt natürlich eine Reihe von Profiteuren und Gewinnern. In Wahrheit ist diese Regulierungswelle ein Fest für Berater und Beraterinnen sowie begleitende Dienstleistungsunternehmen. Das sind vor allem die Rechtsberater, Wirtschaftstreuhänder, sonstigen Unternehmensberater, die all die Regelungen und Verhaltenskodizes in den Unternehmen implementieren und vorformulieren, die Schulungen und Softwareeinstellungen erarbeiten und für die Unternehmen adaptieren; schließlich Compliance-Abteilungen in Unternehmen und Behörden. Auch ganz große Unternehmen, die die Abteilungen schon haben und nun nur ein wenig erweitern, profitieren – alle anderen verlieren.

STANDARD: Sie zweifeln an der Wirkung?

Kalss: In Wahrheit haben wir hier eine massiv befeuerte Bürokratiekrise. Dies ist umso unverständlicher und ärgerlicher, als die Wirkung dieser Normen überhaupt nicht feststeht. Damit üben sich Politiker auf nationaler und europäischer Ebene nur in Aktionismus und machen wirklich einen massiven Fehler. Sie unterwerfen österreichische und europäische Unternehmen einer ungeheuren Regelungs- und Kostenlast. Die Politik schwächt die europäischen Unternehmen damit massiv. Europäische Unternehmen stoßen im Nicht-EU-Bereich auf Unverständnis, ja geradezu auf Ablehnung. Zwei völlig verschiedene Wirkungen sind absehbar: Schwache Vertragspartner, wie etwa Kaffeebauern und Kaffeebäuerinnen in Äthiopien, können die nunmehr verlangten Regeln und Überwachungsprozesse der europäischen Unternehmen nicht einhalten, sie sind viel zu kleinteilig organisiert und können diese Regelungen nicht einhalten. Die europäischen Unternehmen müssen sie aber einhalten. Sie kaufen den Kaffee nur mehr bei deutlich größeren Unternehmen, um diese Regelkolonnen einzuhalten. Umgekehrt wird jetzt schon eine andere Wirkung sichtbar: So lassen sich etwa starke chinesische Unternehmen die europäischen Regeln nicht aufzwingen und verzichten schlicht auf Geschäfte mit europäischen Unternehmen. Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut gemacht. (Karin Bauer, 17.11.2023)