Der Freistaat Thüringen, in der Selbstbewerbung "das grüne Herz Deutschlands", ist ein bisschen aus der Zeit gefallen. Denn ein mitteleuropäisches Standardzubehör des Siedlungsraums fehlt. Hier gibt es praktisch keinen Speckgürtel, keine Einfamilienhausmeere, keine ausufernden Gewerbegebiete. Hier tauchen kleine und mittelgroße Städte so unvermittelt mit ihrer Kirchturmsilhouette zwischen Feld und Wald auf, wie sie es schon im 19. Jahrhundert getan haben.

Kleine Häuser, große Wirkung: die Thüringer Gesundheitskioske.
Kleine Häuser, große Wirkung: die Thüringer Gesundheitskioske.
Thomas Müller

Das passt zu dieser von deutscher Romantik aufgeladenen Bildungslandschaft rund um Goethes Weimar mit ihren Burgen, Schlössern und Fachwerkstädtchen. 54 Prozent Thüringens werden landwirtschaftlich genutzt. Die durchschnittliche Gemeinde dieses Bundeslands hat 3342 Einwohnerinnen und Einwohner. Das ist nicht viel.

Die Städte schrumpfen

Diese Zahl ist eine von vielen in der Schlusspräsentation der Internationalen Bauausstellung Thüringen (IBA), mit keckem Selbstbewusstsein StadtLand – von Thüringen lernen betitelt. Auch wenn ein ganzes Bundesland auf den ersten Blick ein ungewöhnlicher Ort für eine internationale Bauausstellung scheint, das Motto "StadtLand" ist hier genau angemessen: Hier stehen Stadt und Land erkennbar nebeneinander, und weil die grau wuchernde Schaumstoffmasse der Peripherie als Isolationsmaterial fehlt, haben sie hier noch unmittelbar miteinander zu tun.

"Die siedlungsökonomischen Grundlagen", schreibt IBA-Geschäftsführerin Marta Doehler-Behzadi, "sind nicht mehr eindeutig der Stadt oder dem Dorf zuzuordnen." Sie sind Resultat von Prozessen, die über das Territorium hinausgehen. Stadt wie Land stehen zudem unter dem Veränderungsdruck von Klimawandel und Demografie. Eine Grafik in der Ausstellung zeigt die von Dürre befallenen Gebiete der letzten Jahrzehnte. "Im idyllischen Thüringer Wald sind 80 Prozent der Bäume erkrankt und in der Forstwirtschaft gibt es praktisch kein gesundes Holz mehr," erklärt Architektin Katja Fischer, Programm- und Projektleiterin der IBA.

Die Städte – ausgenommen Weimar, Jena und die Landeshauptstadt Erfurt, dank der neuen ICE-Trasse Berlin-München zum attraktiven Knotenpunkt geworden – schrumpfen und stagnieren, von den rund 600.000 Gebäuden in Thüringen stehen 45.000 leer. So etwas füllt man nicht über Nacht wieder auf, auch nicht als IBA.

Die Gewächshausbüros der IBA-Zentrale in Apolda, mit denen das Problem der schwierigen Beheizbarkeit der alten Gemäuer gelöst wurde.
Die Gewächshausbüros der IBA-Zentrale in Apolda, mit denen das Problem der schwierigen Beheizbarkeit der alten Gemäuer gelöst wurde.
Thomas Müller

Darum gehe es auch nicht, sagt Katja Fischer. Stattdessen verfolgt die IBA eine Politik der kleinen Schritte und der Vernetzung engagierter Personen vor Ort. Eine programmatische Frage, die in der Ausstellung immer wieder auftaucht, lautet: "Wie wenig ist genug?" Ein Beispiel, dass wenig sehr viel sein kann: die Thüringer Gesundheitskioske. Die Idee für eine niederschwellige Gesundheitsversorgung in kleinen Orten ohne Hausarzt entwickelten seit 2011 die Stiftung Landleben und der Verein Landengel e. V.

Die IBA übernahm das Konzept, einen Wettbewerb gewann das Berliner Büro Pasel-K Architects, die ersten in freundlichem Holz gehaltenen Kioske wurden bereits eröffnet. Hier finden Bürger Ansprechpartner für Beschwerden oder einfach für Informationen im bürokratischen Krankenkassen-Dschungel. Als Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach Ende 2022 ankündigte, die regionale Gesundheitsversorgung zu stärken, konnte der Thüringener Ministerpräsident Bodo Ramelow stolz mit "bei uns gibt es das schon" antworten. Ein politischer Prestigepunkt für die IBA. "Solche kleinen Akupunkturen signalisieren: Hier kümmert sich jemand", sagt IBA-Projektleiter Tobias Haag.

Nicht auf Investoren warten

Dabei sind komplette Neubauten wie die Gesundheitskioske die Ausnahme unter den IBA-Projekten. Mehrheitlich geht es darum, den reichlich vorhandenen Bestand zu nutzen. Dass das nicht so funktioniert wie in den Nachwendejahren, als man auf großspurige Ich-kaufe-alles-Investoren wartete, die versprachen, ganze Regionen aus der wirtschaftlichen Depression zu retten, weiß man längst. Stattdessen: klein anfangen, dann langsam wachsen, nicht alles sofort auf Hochglanz renovieren. Hilfe dabei vermitteln die sogenannten Leergut-Agenten, ein von der IBA angeregtes Netzwerk von praxiserfahrenen Beratern, die wissen, was man mit dem Gebäudebestand anfangen kann und wo man möglicherweise das Geld dafür herbekommt.

Die wohl überzeugendste Beantwortung der Frage "Wie wenig ist genug?" liefert die IBA-Zentrale selbst. Diese ist seit 2018 in einem ehemaligen Fabriksgebäude in der Kleinstadt Apolda untergebracht, das der später als Kaufhausarchitekt berühmt gewordene Egon Eiermann Ende der 1930er-Jahre für eine Feuerlöscher-Fabrik errichtete. Schon dieser Bau fügte sich an einen bestehenden an; mit seinem klugen Lüftungskonzept und seiner Helligkeit beeindruckt er bis heute. Dennoch stand er nach dem Ende der industriellen Nutzung 1994 viele Jahre leer – zwar feinfühlig saniert, doch mit seinen dünnen Wänden und zarten Fenstern kaum zu heizen.

Die IBA entwickelte nicht nur ein Nutzungskonzept, sondern für ihr eigenes Büro auch eine Haus-in-Haus-Lösung für das Temperaturproblem: Man besorgte sich günstige Gewächshäuser in Standardausführung, stellte sie in die großen, hohen Räume, verkabelte sie mit der Stromleitung an der Decke, fertig. So lässt sich im Winter heimelig arbeiten, während der Raum dazwischen auf zwölf bis 15 Grad temperiert bleibt. Das ist nicht nur pragmatisch und günstig, die surreal-heiteren Glashäuser machen auch sofort Lust, hier zu arbeiten.

Mehr als viel

Zwischen dem IBA-Team und der Ausstellung ist noch reichlich Platz im Eiermann-Bau, der als Open Factory zu Workshops und Diskussionen wie dem StadtLand-Forum einlädt. Ein Konzentrat eines langen Prozesses: Der politische Beschluss zur IBA ist zwölf Jahre her, 2013 bis 2015 ging man auf Tour durchs ganze Bundesland, es folgte ein Strom von Konferenzen und Publikationen wie dem IBA Magazin und der Nordhäuser Zukunftszeitung . Im Herbst wird man dem Landtag Bericht erstatten, nach dem Ende der IBA ab 2024 wird die Stiftung Baukultur Thüringen die begonnene Initiative weiterführen.

Was kann man jetzt schon lernen von Thüringen? Dass es einen langen Atem braucht und man mit kleinen Schritten oft besser vorankommt, dass wenig manchmal mehr als viel ist. Dass Kritik an der Wachstumsgesellschaft nicht freudlosen Verzicht bedeuten muss, sondern dass genug Möglichkeiten in dem, was bereits da ist, schlummern. (Maik Novotny, 20.8.2023)