Federnden Schrittes taucht Carlos Moreno aus dem Un­tergrund der Métro-Station Pont Cardinet auf, seine 64 Jahre sieht man ihm nicht an. Drahtig und agil, mit schwarzem Basecap, strahlt der gebürtige Kolumbianer die Vibes eines langjährigen Techno-DJs aus, der inzwischen ­Yogakurse gibt. Doch Carlos Moreno ist Professor an der Sorbonne und ist bekannt als Erfinder der 15-Minuten-Stadt, in der das Wesentliche, das man zum Leben braucht, per Fuß erreichbar ist. Wobei "Erfinder", wie er selbst sagt, nicht ganz korrekt ist, denn die Idee ist nicht neu – schon in den 1960er- Jahren propagierte die New Yorker Urbanistin Jane Jacobs die Stadt der kurzen Wege. Doch Moreno fand ein griffiges Label dafür. Eines, das viele Städte in ihre Planung übernehmen, allen voran Paris.

Carlos Moreno Urbanist
Schneller Läufer auf der kurzen Distanz: der Urbanist Carlos Moreno. Sein Motto: Vive la mixité!
Maik Novotny/STANDARD

Ein idealer Anlass, um die 15-Minuten-Stadt einem Reality-Check zu unterziehen, bei einem Spaziergang vor Ort mit dem Mann selbst. Der Treffpunkt, das Quartier Clichy-Batignolles im 17. Arrondissement, ist seine Idee. Auf diesem 54 Hektar großen ehemaligen Bahnareal nördlich des Gare Saint-Lazare ist seit 2007 ein neues Stadtviertel entstanden. 3400 Wohnungen, drei Schulen, Shops, Cafés und in der Mitte ein zehn Hektar großer Park. Links ein Wasserlauf, rechts eine Liegewiese, dahinter dichte Bepflanzung, Spielplätze, Pavillons.

Grüner Stadtumbau

"Dieser Park hat sich auch in der Hitzewelle sehr gut bewährt. Clichy-Batignolles ist eines der Pariser ÉcoQuartiers." Frankreich hat die Herausforderungen der Klimakatastrophe erkannt, entwickelt Notfallszenarien für Hitze und Dürre, und fördert mit dem ÉcoQuartier-Programm den grünen Stadtumbau. Im Juni beschloss Paris den "Plan local d’urbanisme bioclima­tique" (PLU), der 2025 in Kraft treten soll und auch über die Amtszeit der Bürgermeisterin Anne Hidalgo hinaus gültig sein wird.

Der Park ist an diesem Dienstagnachmittag gut besucht, und mehrere Gruppen kleiner Kinder in bunten Westen erkunden im städtischen Ferienprogramm fröhlich die Flora und Fauna. Auch Bildungseinrichtungen sind ein wichtiger Teil der 15-Minuten-Stadt, sagt Moreno. "Wir haben das Ziel, die Schule zum Zen­trum des Quartiers zu machen. Dafür werden die Straßen vor den Schulen für den Autoverkehr gesperrt, die Schulhöfe ent­siegelt und an Wochenenden für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht."

Paris, France Parc Clichy Batignolles Eco District reflectios of New housing projects from Martin Luther King Park
Das neue Stadtviertel Clichy-Batignolles im 17. Arrondissement von Paris.
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Der migrantisch geprägte Norden von Paris ist auch hier präsent, im Park ist die große Bandbreite geografischer Hintergründe ganz normaler Alltag. Hört man Carlos Moreno zu, fällt besonders oft das Wort "mixité". Es ist ein Schlüsselbegriff der 15-Minuten-Stadt: Die Mischung von Menschen, die Mischung von Funktionen. Im Wiener Wohnbau nennt man es soziale Nachhaltigkeit, aber das Ziel ist dasselbe: Ghettos vermeiden, eine Nachbarschaft von Bewohnerinnen und Bewohnern mit unterschied­lichem Einkommen. Mit Erfolg, sagt Moreno: "Wie Sie wissen, gab es vor kurzem gewalttätige Proteste in Paris und der Banlieue. Aber hier in Clichy-Batignolles war alles ruhig."

Problemfall Banlieue

Apropos Banlieue. Kritiker der 15-Minuten-Stadt wenden ein, sie würde nur in bereits dicht bebauten und gut erschlossenen Orten funktionieren. Kann sie auch im Speckgürtel funktionieren? "Es stimmt, die Banlieue ist ein ganz anderer Fall", sagt Moreno. "Das liegt daran, dass sie aus vielen einzelnen Kommunen besteht, die keinen gemeinsamen Plan haben. So funktioniert die 15-Minuten-Stadt nicht." Noch nicht. Denn im Juli wurde das Konzept der "20-Minuten-Region Île de France" präsentiert, das bis 2040 den Ballungsraum mit neun Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zu einem dicht verwobenen Netz aus vielen kleinen Zentren machen wird. Man sieht: Die schnelle Moreno-Viertelstunde ist nicht in Stein gemeißelt.

Der Professor klettert flink auf die Aussichtsplattform über der Ringbahn Petite Ceinture, die den Park durchschneidet. Von hier breitet sich das ganze Panorama von Clichy-Batignolles aus: ein Hauch von Central Park. Die Kritik mancher Urbanisten, die Reduktion auf einen 15-Minuten-Radius würde die Stadt zum Dorf machen, scheint zumindest hier nicht zuzutreffen. Aber was ist mit dem Vorwurf, den etwa Morenos US-Kollege Edward Glaeser vorbringt, das Konzept würde die Ungleichheit befördern und sei ein reines Mittelklasse-Produkt?

Shoppen ohne Auto

"Schauen Sie sich um!", ruft Moreno. "Sehen Sie hier Gentrifizierung und Vertreibung? Die Hälfte der Wohnungen hier sind Sozialwohnungen! Das Problem sind die wohlhabenden Viertel wie das 16. Arrondissement, wo die Reichen unter sich bleiben wollen." Die schiefe Pariser Ebene zwischen dem reichen Westen und dem armen Osten wollen Hidalgo und Moreno in die Waagerechte bringen, indem die Stadt leerstehende Areale wie den Komplex des Verteidigungsministeriums am Boulevard Saint-Germain aufkauft und zu ­Sozialwohnungen umfunktioniert. Vive la mixité!

Wir verlassen den Park und steigen die Rampen zwischen den Wohntürmen hinauf in die Einkaufsstraße von Clichy-Batignolles. Sie füllt sich langsam, es ist früher Abend. Die Cafés und Restaurants, manche davon globale Ketten, wirken teuer und noch etwas steril. Wie bekommt man die funktionale "mixité" zwischen Wohnen, Arbeiten und Einkaufen in die Stadt?

Getrennte Funktionen

"Baron Haussmann hat diese Mischung mit seinen Boulevards schon im 19. Jahrhundert realisiert, dort war das Erdgeschoß für Handel und Handwerk bestimmt", sagt Moreno. Doch wie in vielen Städte weltweit wurden in Paris in den 1960er-Jahren die Funktionen getrennt – die riesige Büro-Monokultur La Défense zeugt heute davon. "Heute ist La Défense kaputt, die Funktionstrennung ist gescheitert. Wir haben berechnet, dass ein Großteil der Menschen drei Wochen im Jahr mit Pendeln verbringt. Das ist verrückt! Spätestens seit der Pandemie akzeptieren die Leute das nicht mehr."

Endstation: ein Supermarkt im Erdgeschoß, nahe der Métro. Umschwirrt von den Lastenrädern, die in Paris zum Straßenbild gehören, seit Anne Hidalgo ihren Plan Vélo in Kraft gesetzt und zehntausende Parkplätze eliminiert hat. "Als ich diesen Standort für einen Supermarkt vorschlug, sagten die Bauherren, das würde nie funktionieren, wenn keine Autos vor dem Eingang parken können. Aber Sie sehen, es funktioniert. Die Leute sind nicht dumm, sie passen sich an. Und Anpassung ist ein Zeichen von Intelligenz." (Maik Novotny, 15.8.2023)