Wo es ums Geschäft geht, sind Emotionen fehl am Platz. Aus dieser alten Weisheit könnte man auch eine Ursache für die graue Monotonie im mitteleuropäischen Städtebau ableiten. Denn wenn es etwas gebe, das verlässlich Emotionen wecke, dann sei es Farbe, sagt Matthias Sauerbruch. "Die Leute reagieren darauf unmittelbar und emotional, sie finden es dann vielleicht auch schrecklich oder unpassend, es gibt aber kaum jemanden, bei dem Farbe keine Reaktion hervorruft." Auf breite Gefühlsspektren ist das Geschäftsmodell von Investoren und Immobilienentwicklern aber eher nicht gebaut, da setzt man dann doch lieber auf eine sichere Bank. Sie heißt zum Beispiel Anthrazit und mit zweitem Vornamen Beliebigkeit.

Keramikfassaden des Museo M9 in Mestre
Gelungener Beitrag zur Stadterneuerung: Die Keramikfassaden des Museo M9 in Mestre spiegeln das Ziegelrot der Umgebung.
Alessandra Chemollo / Courtesy M9

Wie bringt man Bauherrinnen und Bauherren also dazu, Farbe zu bekennen? Aus Sauerbruch und seiner Partnerin Louisa Hutton sprechen rund dreißig Jahre Erfahrung, wenn sie erklären, dass diejenigen, "die nicht nur an den Verkauf im nächsten Jahr denken, sondern länger Eigennutzer sind und das Gebäude vielleicht sogar einer nächsten Generation übergeben wollen", wesentlich offener für gestalterische Qualität seien. Und die drückt sich bei Sauerbruch Hutton auch in fein austarierten Farbkonzepten und Fassadengestaltungen aus. Kurz gesagt: Wem Farbe in der Architektur eingedenk postmoderner Auswüchse oder einheitsbunt angepinselter Einfamilienhäuser als schreiend aufdringlich, trivial oder mindestens suspekt gilt, findet in den Gebäuden von Sauerbruch Hutton den Gegenbeweis. Ein prominentes Beispiel ist das Museum Brandhorst in München, das mit seiner Haut aus farbig leuchtenden Keramikstäben seit 2009 für ein heiteres Flirren im Kunstareal der bayerischen Landeshauptstadt sorgt.

Wie kaum jemand sonst hat das deutsch-englische Architektenduo, in dessen Berliner Büro heute rund 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt sind, die Farbe als Material der Architektur neu definiert und begreift sie als ein zentrales Entwurfswerkzeug. Begonnen hat das bereits in den späten 1980er-Jahren, nach der Gründung des gemeinsamen Büros in London schlugen sich die Jung-Architekten zunächst mit kleineren Aufträgen wie Ausbauten und Renovierungen durch – und entdeckten auch angesichts der beengten Londoner Wohnverhältnisse das raumbildende Potenzial von Farbe. Es sollte sie nicht mehr loslassen.

Suspekt und politisch

Das zeigt sich aktuell im Innsbrucker Architekturzentrum "aut. architektur und tirol", wo Sauerbruch Hutton rund 60 Modelle realisierter wie auch nicht realisierte Projekte aus dreißig Schaffensjahren präsentieren. Open Box nennt sich die Schau in Anspielung an die Transportkisten, auf denen diese Modelle präsentiert werden und die ihrerseits ein konsequentes Denken "out of the box" sichtbar machen. Entgegen manchen Widerständen: Farbe ist nämlich nicht nur suspekt, sie ist auch politisch! Was bei einem der jüngsten Projekte zum Problem hätte werden können, wäre dafür Zeit gewesen.

Klimabewusstes Bauen

Beim Luisenblock West im Berliner Regierungsviertel ging – gänzlich untypisch für die notorisch von Bauskandalen geplagte deutsche Hauptstadt – ausnahmsweise einmal alles ganz schnell, das Bürogebäude für die Bundestagsabgeordneten entstand in nur zwanzig Monaten Planungs- und Bauzeit. Langwierige Debatten über die Frage, ob so ein Bau angesichts des farbig punzierten Polit-Spektrums auch eine farbige Fassade verträgt, blieben den Architekten deshalb erspart – zum Glück, sagt Hutton: Die farbig bedruckten Glasstreifen an der aus recyceltem Aluminium bestehenden Fassade brächten nämlich eine neue Lebendigkeit in das sonst weitgehend betongraue Regierungsviertel.

Luisenblock West
Der Luisenblock West entstand in Holzmodulbauweise.
Jan Bitter

Der in Holzmodulbauweise (übrigens eine Zusammenarbeit mit dem Bregenzerwälder Holzbauexperten Kaufmann) errichtete Luisenblock ist aber auch ein gutes Beispiel dafür, dass farbige Fassadengestaltungen bei Sauerbruch Hutton nicht zum Selbstzweck verkommen, sondern eng mit Nachhaltigkeit zusammengedacht werden. Das war auch schon beim Berliner GSW-Turm so, mit dessen Sanierung und Erweiterung die Architekten 1991 ihren ersten großen Auftrag realisierten.

Venedigs neue Mitte

Mit einer Fassade aus farbigen Lichtschutzblenden in Rot- und Orangetönen verwandelten sie den unmittelbar neben dem Checkpoint Charlie gelegenen, ehemaligen Sitz der Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft (GSW) in eine Landmark der Berliner Nachwendezeit. Die nicht nur wegen ihres integrativen Charakters gerühmt wurde, sondern auch als ein Pioniergebäude des klimabewussten Bauens gilt. Dass der Fassade nach Besitzerwechseln und Umbauplänen gerade die Zerstörung droht, hat die Architekten dazu veranlasst, eine Petition zu starten.

Nachhaltiges Bauen bedeute heute vor allem auch, "alternative Nutzungsformen und die zukünftige Demontage mitzudenken, ohne dabei charakterlos oder banal zu wirken", sagt Sauerbruch, und Hutton pocht auf jene "Sinnlichkeit", zu der bei ihren Bauten eben auch Farben einiges beizutragen haben. Und zwar auch jene der gebauten Umgebung, auf die sie mit ihren polychromen Fassaden reagieren.

Spiegel der Ziegel

So auch beim M9 im venezianischen Mestre, dessen Kleid aus rot, grau und weiß geflammten Keramikelementen die Ziegelbauten der Umgebung spiegelt. Bei dem 2019 fertiggestellten Projekt handelt es sich nicht bloß um einen – aus zwei Baukörpern bestehenden – Neubau für das Museum der italienischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern um ein gelungenes städtebauliches Projekt, das einem vormals toten Viertel eine neue Mitte verliehen hat.

Digital darin eintauchen kann man in einer eigenes für die Schau entwickelten App, am Ausstellungsort selbst blieben Sauerbruch Hutton in puncto Farbe überraschend zurückhaltend: Allein die großen Fensterfronten des ehemaligen Brauereigebäudes, einer Ikone der – ausgerechnet! – weißen Tiroler Moderne von Lois Welzenbacher, haben einen neuen Anstrich bekommen. (Ivona Jelčić, 16.7.2023)