Yaccarino soll aufgrund ihrer Erfahrung im Werbemarkt lindernd auf die Gemüter von Twitter-Kund:innen einwirken.
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Am Montag startete Linda Yaccarino offiziell in ihrer Position als erste Frau im Chefsessel von Twitter. Vor der 59-Jährigen liegt ein Scherbenhaufen, Twitter ist in der Krise. Der Versuch, den Konzern aus der Schieflage zu holen, könnte Yaccarino noch zum Verhängnis werden. Dass eine Frau die Rolle der CEO eines Social-Media-Giganten übernimmt, erscheint zunächst fortschrittlich. Jedoch tritt Yaccarino unter anderen Vorzeichen als ihr Vorgänger, Milliardär und Twitter-Eigentümer Elon Musk, an die Spitze des Netzwerks.

Die von Musk wieder zugelassenen kontroversen Accounts vergraulten Werbekund:innen, Trolle konnten den Kurznachrichtendienst als Spielwiese für Desinformation nutzen, der Umsatz ist stark zurückgegangen. Dass mit Yaccarino nun eine Frau die Führung übernimmt ist wohl kein Zufall, sondern ein weiteres Beispiel des Glass-Cliff-Phänomens – der gläsernen Klippe. Das Glass-Cliff beschreibt die Tendenz, dass Frauen oder Minderheiten, nachdem sie die Barrieren vor Spitzenpositionen überwunden haben, bildlich gesprochen an einer Klippe hängen – aus Glas, weil sie nicht für alle sichtbar ist. Es sind Cheftitel für marode Unternehmen oder Regierungen, die Steilvorlagen zum Scheitern bieten.

Zuerst wurde das Phänomen von den britischen Professoren Michelle K. Ryan und Stephen Alexander Haslam beschrieben. Sie untersuchten die größten 100 Unternehmen des britischen Aktienindex FTSE, die Frauen in ihren Vorstand aufnahmen. Diese hatten in den fünf Monaten vor dem Personalwechsel eine konsequent schlechte Performance. Für die Frauen, die Spitzenpositionen annehmen gibt es wenige Alternativen. Laut dem Global Leadership Forecast sind in mehr als 50 untersuchten Ländern nur 28 Prozent der Führungspositionen im Tech-Sektor weiblich besetzt. Bei den umsatzstärksten US-amerikanischen Fortune-500-Unternehmen sind es nur 10,4 Prozent.

Mario zeigt den Stinkefinger

Zwar ist das Phänomen vielfach untersucht, es bleibt aber unter Forschenden umstritten. Ein passenderes Beispiel für das Glass-Cliff als das Yaccarinos finde sich jedoch kaum, wie Christy Glass, Soziologin der Utah State University, zu "Wired" sagte. Der Chefsessel wurde bei Twitter nach einer folgenschweren Umfrage ihres Vorgängers frei. Im Dezember 2022 stimmten 57,5 Prozent der Nutzer:innen für seinen Abgang. Musk kündigte an, seinen Posten zu räumen, sobald er jemanden finde, der "dumm genug ist, um den Job zu nehmen". Im Mai bestätigte er die Übernahme durch Yaccarino, die zuvor die Werbeabteilung des Medienkonglomerats NBC Universal leitete.

Es macht auf den ersten Blick Sinn, dass eine ehemalige Werbechefin das soziale Netzwerk leitet, das aufgrund seiner Werbeeinbußen beträchtlich an Kapital verloren hat. Im Jänner ist der Umsatz der Firma im Jahresvergleich um 40 Prozent gefallen. Mehr als 500 Top-Werbekund:innen pausierten  oder kündigten ihre Aufträge nach Musks Kauf. Zuvor machte Werbung 90 Prozent des Umsatzes von Twitter aus. Massenweise Mitarbeiter:innen wurden entlassen – laut Musk 80 Prozent der Belegschaft. Darunter waren auch Werbeverkäufer:innen und zahlreiche Moderator:innen, die unzulässige oder rechtswidrige Inhalte entfernten. Zuvor blockierte Kanäle vom Ex-US-Präsidenten Donald Trump bis hin zu Neo-Nazis wurden wieder zugelassen.

Um wieder Geld in die Kassen zu spülen, präsentierte Musk ein neues Angebot: Für acht Dollar im Monat konnten User:innen einen verifizierten Account bekommen. Das Ergebnis waren offiziell wirkende Fake-Accounts vom ehemaligen US-Präsidenten George Bush, der behauptete er würde es vermissen, Iraker zu töten und ein weiterer des früheren britischen Premiers Tony Blair, der Bush zustimmte. Ein falscher Nintendo-User twitterte ein Bild von Mario, der den Stinkefinger zeigte – ein unfreiwilliges Maskottchen für Musks Twitter. Als Reaktion führte der Twitter-Chef schließlich die Regel ein, dass Parodie-Accounts das Wort "Parody" enthalten müssten – zu spät für zahlreiche Kunden.

Widerstand der Musk-Ultras

Yaccarino muss nun hinter Musk aufräumen. Einige User:innen reagierten empört auf ihre Ernennung. Ihr Engagement bei einer staatlichen Impfkampagne sowie ihre Rolle als eine der Vorstandsvorsitzenden des Weltwirtschaftsforums sorgte bei Musk-Ultras für Furore. Ihre Twitter-Blase für Verschwörungsmythen und Hassrede, die unter Musks Laissez-faire-Führung florierte, könnte platzen. Jedoch wirken Yaccarinos langjährige Erfahrung sowie die Tatsache, dass sie mit zwei US-Regierungen zusammengearbeitet hat, lindernd auf die Gemüter von großen Werbekunden und gemäßigten Twitter-Usern.

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DER STANDARD

Auch, dass sie eine Frau ist, wirkt symbolisch. Laut Ryan und Haslam wollen Organisationen in Schieflage eine klare Änderung nach Außen kommunizieren. Der Bruch mit dem Status Quo kommt auch optisch durch eine Frau an der Spitze. Für die CEOs, die die Rollen bekommen, bedeuten diese Stellen Risiken. Qualifizierte Vorgängerinnen Yaccarinos gab es bei Tech-Konzernen wie Yahoo oder Reddit. Ellen Pao übernahm die Leitung von Reddit nachdem Yishan Wong zurückgetreten war. Reddit begann unter Pao, Gruppen zu blockieren, die Rachepornos oder Hassbotschaften gegen übergewichtige Menschen, Transgender-Personen und andere marginalisierte Gruppen verbreiteten. Nach etwa neun Monaten voller Anfeindungen und einer Petition für ihren Rücktritt, verließ Pao im Juli 2015 Reddit.

2012, als Marissa Mayer Yahoo übernahm, war der Werbemarkt für das Unternehmen fast vollständig durch die Platzhirschen Facebook und Google verschlungen. Yahoo hatte ein turbulentes Jahr inklusive mehrerer CEO-Wechsel hinter sich. Mayer gab den Job nach fünf Jahren auf – zuvor schaffte sie es aber, das in Schieflage geratene Unternehmen an Verizon zu verkaufen.

Bierlein und May

Sucht man außerhalb der Tech-Branche, tauchen auch Namen wie Theresa May oder Brigitte Bierlein auf. May wurde Premierministerin, als Großbritannien einen deutlichen Umschwung durch den Brexit erlebte. Bis dato die einzige Frau, die 2019 – interimistisch, aber doch –, die Kanzlerschaft in Österreich übernahm, ist die ehemalige Verfassungsrichterin Bierlein, nach der Regierungskrise von Türkis-Blau.

Dass die CEOs und Regierungschefinnen ihre Posten verließen, bedeutet nicht, dass sie nie Fehler gemacht haben. Forschende geben aber zu bedenken, dass Frauen und Minderheiten bei Fehlentscheidungen in der Arbeit drastischere Konsequenzen erfahren als weiße Männer. Eine Studie aus dem Jahr 2016 schildert, dass weibliche Beraterinnen bei Fehlverhalten beispielsweise um 20 Prozent häufiger ihre Stelle verlieren und um 30 Prozent seltener eine neue Stelle finden als ihre männlichen Kollegen.

Die Bilanz lässt darauf schließen, dass Yaccarino schlechte Karten hat. Doch nicht jede Frau an einem Glass-Cliff stürzt ab. Ein strahlendes Exempel bleibt Mary Barra, die das Steuer bei General Motors (GM) übernahm. Der Autohersteller erholte sich 2014 immer noch von seinem Konkurs und wurde kurz nach Barras Start durch den Rückruf von 1,6 Millionen Autos erschüttert. Barra konnte GM jedoch stabilisieren und ist weiterhin CEO.

"Ich wanke nicht"

Es gibt zudem eine Frau, die den Chefposten in einem von Musk geleiteten Unternehmen erfolgreich bekleidet. Gwynne Shotwell ist als Präsidentin und COO (Chief Operating Officer) mit der Koordination der Betriebsprozesse bei Space X betraut. Musk ist zwar noch CEO, überlässt Shotwell aber die Verantwortung beim Tagesbetrieb des Raumfahrtunternehmens. Bei Space X gibt es zwischen Musk und Shotwell seit 2008 eine Art der Zusammenarbeit, die auch für Yaccarino von Vorteil wäre.

Yaccarinos Job ist riskanter, sollte sie den Drahtseilakt zwischen ihrem Chef im Hintergrund, verschreckten Werbekunden und Usern und Musk-Ultras schaffen, wäre es nicht nur ein Erfolg für Twitter, sondern auch ein Beispiel dafür, dass sich Frauen von der gläserne Klippe wieder hinaufziehen können. Auf einen Artikel von "Wired", dass Yaccarino am Glass-Cliff wanken würde, reagierte sie mit einem Tweet: "Als jemand, der es gewohnt ist, 4-Zoll-Absätze zu tragen, möchte ich klarstellen: Ich wanke nicht." (Isadora Wallnöfer, 9.6.2023)