Der Schriftsteller Clemens J. Setz zieht in seiner Klagenfurter Rede zur Literatur Parallelen zwischen geschauspielertem Wrestling, der Literatur – und der Politik. Im Folgenden Auszüge.

"Im Herzen der Wrestlingwelt wohnt ein Begriff, der uns, dem Literaturvolk, paradoxerweise mehr über das zu erzählen vermag, worum es in den nächsten vier Tagen hier gehen wird, als alle anderen Begriffe, die ich mir denken kann, mehr über das Geschichtenerzählen an sich und dessen Verhältnis zum persönlichen Alltag und zur politischen Realität und sogar mehr über die Rollenbilder, in die wir, vielleicht von übergeordneten Instanzen, schon seit der Geburt gezwungen wurden. Es ist ein Begriff, der, wenn man ihn erst einmal erlernt hat, sofort zu einem unvermeidlichen und essenziellen Werkzeug der Weltwahrnehmung wird: Kayfabe.

Die Etymologie dieses Wortes ist unbekannt. Kurz gesagt, bedeutet es so viel wie 'Wahrung der vierten Wand' – nach der sogenannten vierten Wand im Theater, also der unsichtbaren Barriere zwischen Schauspielern und Publikum – oder auch 'Wahrung der Suspension of Disbelief'. Das heißt: Wrestler dürfen niemals aus ihrer Rolle fallen, nicht einmal, so zumindest der Idealfall, wenn sie allein sind. Reale Freundschaften unter fiktiv verfeindeten Kollegen sind untersagt oder werden streng reglementiert.

Das Prinzip Kayfabe wird in den großen Wrestlingverbänden zum Teil so dogmatisch umgesetzt, dass viele Profiwrestler in ihrem privaten Leben die vom Management über sie verhängte Persona wie selbstverständlich weiterspielen und sogar ausbauen. (...)

Hat man sein Auge einmal dafür sensibilisiert, sieht man Kayfabe plötzlich überall, sagt Clemens J. Setz.
Foto: Heribert CORN

Macht und Zersetzung

Um die Weihnachtszeit erschien ein Werbeclip auf Youtube, in dem Österreichs (damaliger, Anm.) Vizekanzler Heinz-Christian Strache sich selbst spielt. Die Storyline: Ein Ehepaar wird nachts von Geräuschen im Haus geweckt. Die beiden stehen auf, sie entdecken den Vizekanzler in ihrem Wohnzimmer, verlangen von ihm eine Erklärung. Er bringe ihnen ein Weihnachtsgeschenk, beteuert Strache. Und zeigt es dem Ehepaar draußen vor dem Haus: Es ist die Stille. Das Pärchen begreift zuerst nicht. Es sei jetzt so ruhig, erklärt Strache, weil die FPÖ alle Fremden aus dem Land geworfen habe. (...)

Diese Verschmelzung von spielerisch augenzwinkernder Brutalität mit realer Macht ist die bizarrste Ausformung der Kayfabe, gedacht als Absicherung der eigenen Macht und Zementierung einer dem Volk verabreichten Weltanschauung, aber zugleich immer auch das erste Anzeichen einer bevorstehenden Selbstauflösung. Es ist ein, sozusagen, vorauseilendes letztes Lebenszeichen eines bereits an sich selbst zugrunde gehenden Systems. Denn ab einem gewissen Zeitpunkt werden alle von Einschließung und Ausgrenzung durchdrungenen Machthaber selbstähnlich, spielen sich nur noch selbst, verheddern sich in Rückkopplungsschleifen, und mit etwas Glück kann man ihrer Zersetzung live beiwohnen.

Die Faust des Populismus

Den Rechtsradikalen und Rechtspopulisten, die nun überall in Europa langsam ihre Faust um wichtige Institutionen zu schließen beginnen, kann man getrost die Mitteilung machen: Natürlich werdet ihr verschwinden. Make no mistake. Man sieht euch bereits an den Rändern flackern. Euer System ist ein geschlossenes, und wie alle geschlossenen Systeme erstickt es irgendwann an sich selbst, verirrt sich in den beschriebenen 'strange loops' der Kayfabe und der Selbstverwechslung. Ihr wisst gar nicht mehr, wer euch schreibt. Da hilft es auch nicht viel, wenn sich, wie im Fall des österreichischen Bundeskanzlers, ein junger, energiegeladener Erklärbär für euer System gefunden hat.

In milderer Form kenne ich diese leicht prognostizierbare Zersetzung aus eigener Erfahrung. Als ich fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war, las ich keine Romane, sondern nur Bücher über Verschwörungstheorien: Freimaurer, Nazi-Ufos, Bilderberger, Viktor Schauberger, Thule-Gesellschaft, Jan van Helsing und so weiter. Ich war von meiner Lieblingsserie 'Akte X' sozusagen rekrutiert worden. Ich war ein perfektes Beispiel für gelebte, ferngesteuerte Kayfabe.

Ferngesteuerte Kayfabe

Wäre ich heute noch in dieser Phase, würde ich vermutlich andauernd das Wort Lügenpresse im Mund führen, hätte fantasievoll blühende Ansichten zu George Soros, zum Klimawandel und zu Impfungen, zu Julian Assange und Alex Jones und würde im österreichischen Quasi-Staatsmedium "unzensuriert.at" jeden Tag nach Bestätigung meiner 'alternativen Fakten' suchen. Für mich äußerst schwachen und unreifen jungen Mann war es damals das Wichtigste, insgeheim mehr zu wissen als meine Umwelt. Das war die Hauptsache. Dabei war das bloß die Rolle von Agent Fox Mulder in 'Akte X'. Dabei wusste ich anfangs noch, dass es Fiktion war, dann erst wuchs ich in die Rolle, und, bumm, schon war da eine Persönlichkeit und eine Weltanschauung. Fucking Kayfabe.

Es dauerte etwa ein Jahr, bis dieses Gift meinen Körper verließ. Ähnlich lang dauerte es übrigens, bis ich mir, etwa im Alter von zehn Jahren, vor mir selbst eingestehen konnte, dass Wrestling nicht real war.

Wrestler dürfen niemals aus ihrer Rolle fallen.
Foto: APA/AFP/PHILIPPE HUGUEN

Royal Rumble

Wir alle, Sie und ich: Autorinnen und Autoren, Freundinnen und Freunde der Literatur, Jurorinnen und Juroren, Kritikerinnen und Kritiker, haben ständig mit mehr oder weniger differenziert ausgearbeiteten Storylines zu tun. Fiktive Charaktere, Wendepunkte, Suspense, Inszenierung – all das ist unser Metier. Den Großteil der Storylines produziert aber nicht die Literatur, sondern sie werden von Firmen, Marketing-Agenturen und von der Politik verfasst. Und wir, die wir uns mit Literatur befassen, haben genau das jahrelang studiert: Storylines. Wir sind trainiert, sie zu erkennen. Wir wissen ganz genau, wie das geht, wenn uns zum Beispiel das Eigene fremderzählt wird. (...)

Ein mehrtägiger Event wie die Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt sieht von außen zwar vielleicht aus wie ein wrestlingartiges Ereignis, ein Kampf nicht Gut vs. Böse, sondern Gut vs. Schlecht, ein Royal Rumble sozusagen, bei dem die Konkurrenten nach und nach aus dem Ring geworfen werden, bis am Ende einer siegreich übrig bleibt, aber das ist ein unvollständiges, falsches Bild.

In Wahrheit ist der Bewerb ein für kurze Zeit hochtourig laufendes Fabriklein, das einen konzentrierten Datenstrom aus Fiktionen produziert, die, so wollen wir es uns wünschen, ihre vorübergehenden Trägerseelen heil lassen, die niemanden rekrutieren, abrichten oder verschicken wollen und die womöglich das in unseren Ländern vielleicht schon in naher Zukunft allmählich wiedererwachende Schamgefühl erheben und einbetten können in sinnvolle Zusammenhänge. Fiktionen, die, selbst wenn man sie gnadenlos ernst nimmt, den Geschöpfen ihre Mündigkeit belassen, auch wenn diese noch so sehr und so beharrlich nach dem Gegenteil verlangen." (Clemens J. Setz, 27.6.2019)