Dichter Volker Braun auf Horchposten in der Welt des neoliberalen Kapitalismus: Die Zukunft soll anders – und für alle besser werden.

Foto: Peter Peitsch

Niemand wurde gründlicher überrascht vom Kollaps der DDR als deren kritischste Parteigänger, die Autorinnen und Autoren. Der sächsische Dichter Volker Braun – er ist kürzlich 80 Jahre alt geworden – hatte die starrsinnigen Greise der SED wiederholt wissen lassen, was er von ihren Methoden der Bevormundung und der Gesinnungsschnüffelei hielt: gar nichts.

Als der Unmut die Bürger 1989 massenhaft auf die Straßen trieb, begann auch Braun, unmissverständlich Klartext zu reden. Vorbei die Zeit der Verklausulierungen. Die Intellektuellen waren es gewohnt gewesen, sehr geschichtsbewusst von Georg Büchner oder Arthur Rimbaud zu sprechen, wenn sie andeuten wollten, dass die Gelegenheit für Veränderungen gekommen sei. Und plötzlich teilte Braun, der ehemalige Dramaturg am Berliner Ensemble und seit 1960 Mitglied der SED, die völlig ungewohnte "Erfahrung der Freiheit" mit der Masse seiner Landsleute.

Sein gleichnamiger Text, ein poetisch hochwertiger Zeugenbericht in acht Paragraphen, erschien im November 1989 im Neuen Deutschland. "Das Neue erscheint dem Beharrenden als Schrecken", sieht man den Dichter atemlos notieren. Aber er macht sich bereits Gedanken über das Nachspiel, das unfehlbar kommen wird, um die stolzesten Illusionen von Freiheit und Teilhabe für alle zu begraben. "Noch erleben wir die Freiheit frei von Verantwortung. Aber wir werden sie tragen müssen."

Kosten der Freiheit

Über die Kosten der Freiheit hat kaum jemand präziser Auskunft gegeben als Braun, der Denker aus Dresden: Sachse aus dem "Tal der Ahnungslosen", das man deshalb so nannte, weil die dortige Bevölkerung des Gebirges wegen kein Westfernsehen empfing. Der Band Verlagerung des geheimen Punkts versammelt Brauns theoretische Einlassungen aus 35 Jahren. Es ist ein unverzichtbares Buch geworden. Es setzt jeden, der das wissen will, in Kenntnis davon, was Dichter vermögen in dürftiger Zeit. Braun spendet keinen Trost. Er misst die Wirklichkeit an den Begriffen. Solche müssen Autoren parat haben, um die Möglichkeiten zu benennen, die die Geschichte für die unterdrückte Menschheit bereithält. Auch dann, wenn das Ausmaß des Elends jeder Verwirklichung spottet.

"VOLKSEIGENTUM PLUS DEMOKRATIE", nennt Braun das zum Beispiel in Großbuchstaben: Das sei noch nirgends probiert in der Welt. Die Menschen, gleich ob sie in der Ersten oder in der Dritten Welt ihr Dasein fristen, müssten sich wieder "der Zukunft erinnern".

Schrott der Vertröstungen

Brauns "Luftkoffer, mein politisches Gepäck" enthält ebenso Gegenstände der Erinnerung wie solche der Erwartung. Braun lehrt, dass es nicht reicht, sich mit den politischen Gegebenheiten abzufinden. Auch dann nicht, wenn töricht das "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) ausgerufen wird, oder wenn der "ideologische Schrott der Vertröstungen" auf dem Markt für Konsumenten gehandelt wird.

Volker Braun hat nie aufgehört, den Kapitalismus als bloße Entwicklungsstufe anzusehen. Er sei bestenfalls ein notwendiges Übel: Garant für den Fortbestand der "Übergangsgesellschaft". Aber Braun ist auch die letzte Seherfigur aus der Generation der Heiner Müllers und Christa Wolfs. Für die war die projektierte Zukunft noch Gegenstand ihrer (dichterischen) Alltagsarbeit.

Unermüdlich ruft Braun Zeugen auf, die seine skeptische Zuversicht beglaubigen sollen. Es sind beinahe vergessene Größen wie der jüdische Kommunist Peter Weiss oder der französische Aufklärer Diderot. In der DDR erlebte Braun, im Hauptberuf einst Dramatiker, die "Geschichte auf dem Abstellgleis". Aber selbst in der "ewigen" Gegenwart des Staatssozialismus erfreute er sich der Raubkatzenbewegungen eines jugendlichen Anarchisten, wie Arthur Rimbaud einer war: "Dabei wissen wir doch, dass uns die Freiheit nicht auf den Versen folgt. Wir müssen, grässliche Vernunft, Provokateure bleiben". Volker Braun ist Gott sei Dank ein solcher Provokateur geblieben. (Ronald Pohl, 22.6.2019)