Schule Wien
Wiens Bildungsstätten heißen derzeit viele neue Kinder und Jugendliche willkommen: In den beiden ersten Monaten des Jahres zählte die Stadt jeweils mehr als 400 neue Schuleintritte.
Heribert Corn

Der Motivationsversuch ging nach hinten los. Als der 14-jährige Yusuf bei der Deutschschularbeit weniger als 40 Rechtschreibfehler pro Seite fabriziert hatte, rief ihn der Lehrer zu sich. Er habe sich einen ehrlichen Vierer erarbeitet, so das als aufmunternd gedachte Lob, eine tolle Leistung für einen, der noch nicht lange in Österreich sei. Doch die Reaktion fiel erstaunt aus. "Was labern Sie?", antwortete der türkischstämmige Bursche, gar nicht frech gemeint, und klopfte sich mit der Faust auf die Brust: "Ich bin hier geboren.""

Er könnte noch viele derartige Anekdoten zum Besten geben, sagt Hannes F., aber es sei ja nicht sein Ziel, sich über irgendwen lustig zu machen. Geschichten wie diese erzähle er nur, weil es so wie bisher nicht weitergehen dürfe: "Die Schulen sind überfordert."

Großteils Flüchtlingskinder

Der auf Anonymität bedachte Pädagoge F. unterrichtet an einer Mittelschule, wie sie – so sagt er – in Wien nichts Besonderes sei. Wenn es da überhaupt Kinder ohne Migrationshintergrund gebe, dann könne man diese an einer Hand abzählen, etwa 90 Prozent dürften Muslime sein. Anders lasse es sich nicht erklären, dass die Schule unlängst am Feiertag zum Ende des Ramadans fast leer war.

Dafür platze das Gebäude an gewöhnlichen Tagen "aus allen Nähten", in die Deutschförderklassen passe kein zusätzlicher Tisch mehr hinein. Derzeit seien es hauptsächlich Flüchtlingskinder, die für ständigen Zuzug sorgten, ein beträchtlicher Teil habe zu allererst einen Alphabetisierungskurs nötig. Auch das wäre noch keinen Aufschrei wert, würden die Ressourcen Schritt halten, sagt F. Aber so, wie die Schulen aufgestellt seien, "ist das, was da auf uns zukommt, ein Wahnsinn".

Worauf der Lehrer anspielt, machte vor kurzem, auch im STANDARD, Schlagzeilen. Weil in Österreich ansässige Zuwanderer mit Asylstatus verständlicherweise ihre Familien nachholen wollen, kommen derzeit viele junge Menschen neu ins Land. Im Vorjahr waren es rund 6000 Kinder im schulpflichtigen Alter und jünger, und der Trend setzt sich vorerst fort. Den Großteil zieht es nach Wien, weil dort auch die Väter, Mütter oder Geschwister leben. Im Jänner zählte die Stadt 462 neue Schuleintritte, im Februar 465. Abgesehen von einer Handvoll Ukrainern die meisten aus Syrien.

Die Stadtregierung stellt reihenweise "mobile Schulklassen" – sprich: Container – auf, aber mit neu geschaffenem Platz allein ist es nicht getan. Die Kinder sollen ja auch gut genug unterrichtet werden, um später einmal auf eigenen Beinen im Leben stehen zu können. Das beginnt naturgemäß bei der Sprache.

Minderheitensprache Deutsch

Doch da baut sich vor den Bildungsstätten nicht erst seit heute eine große Herausforderung auf. Kontinuierlich ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit nicht deutscher Alltagssprache angewachsen. Fielen in den Wiener Volksschulen im Schuljahr 2006/07 – ältere vergleichbare Zahlen hat die Statistik Austria nicht zur Verfügung – noch 51 Prozent in diese Kategorie, sind es aktuell knapp 65 Prozent (siehe Grafik). An den Mittelschulen stieg die Quote gar von 61 auf 80 Prozent.

Collage Migration
der Standard

Zeit für eine unverblümte Bestandsaufnahme: Sind die Pflichtschulen der Ballungszentren mit so viel Integrationsarbeit längst heillos überlastet? Oder schaffen wir das doch?

"In ein paar Jahren werden wir vor Problemen stehen, im Vergleich zu denen die aktuellen wie ein Lercherlschas erscheinen werden" Lehrervertreter Thomas Bulant

Thomas Bulant kann sich beim besten Willen kein Ja abringen. Dabei ist der 59-Jährige nicht unbedingt ein Schwarzmaler. Vor mehr als zehn Jahren hat DER STANDARD wiederholt jene Mittelschule besucht, in der Bulant als Mathematiklehrer unterrichtete. Schon damals mangelte es nicht an Nöten – von einer wachsenden Zahl an Sorgenkindern, die unter Vernachlässigung, Aggressionsschüben und anderen (psychischen) Krisen litten, berichtete der Pädagoge, und von sich immer hilfloser fühlenden Kollegen. Trotzdem fiel sein Resümee versöhnlich aus. Obwohl der Lehrplan gewiss nicht auf Punkt und Beistrich erfüllt werden könne, gelinge es doch, viele Schützlinge zu "wertvollen" Mitgliedern der Gesellschaft zu formen.

Heute klingt Bulant, nunmehr hauptberuflich Vizechef der Pflichtschulgewerkschaft, anders. "Bei so vielen negativen Faktoren" falle ihm nichts ein, was einen optimistischen Blick in die Zukunft erlaube, sagt er: "In ein paar Jahren werden wir vor Problemen stehen, im Vergleich zu denen die aktuellen wie ein Lercherlschas erscheinen werden."

Noch einmal angewachsen seien die von den Kindern mitgeschleppten Defizite, so der Befund des deklarierten Sozialdemokraten. Zum einen räche sich die Corona-Pandemie, die Schulanwärter wertvolle Kindergartenzeit gekostet habe. Zum anderen sei es aber die "Fülle" des Familiennachzugs, die große Schwierigkeiten bereite. Kein Wunder, wenn die allermeisten Neubürger auf keine ordentliche Schullaufbahn bauen könnten – und auch kaum auf Hilfe der oft weder mit hohem Bildungsniveau noch Geld gesegneten Eltern.

Muslimische Mädchen in einer Klasse
Bild aus einer Wiener Mittelschule: Die Lehrerinnen und Lehrer in der Klasse könnten die Integration nicht alleine schupfen, sagen Kritiker.
Heribert Corn

Diese höchst herausfordernde Klientel stoße auf ein geschwächtes Lehrerkollegium. Den nun vielfach in Pension gehenden "Babyboomern" folge eine junge Generation, die wegen einer "verfehlten" Ausbildungspolitik zu wenig Praxis mitbekomme: Viele seien überrascht, was sie an Problemen erwarte. Im Job fehle es dann nach wie vor an Unterstützung – die an Schulen angebotene sozialtherapeutische Hilfe etwa sei wie der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein, sagt Bulant: "In der Regel soll es die Klassenlehrerin allein schupfen. Doch das geht sich immer weniger aus."

Ernüchternde Resultate

Die Resultate seien ernüchternd. Mancher Pflichtschulabgänger verfüge über keinen größeren Wortschatz als sein sechsjähriger Enkel, dem von den ersten Lebensstunden an vorgelesen wurde, berichtet Bulant. Das bedeute nicht nur für die Chancen der Betroffenen Übles, sondern für die ganze Volkswirtschaft. "Wir können die Kinder kaum dazu befähigen, einmal jenes Reservoir an Facharbeitern zu stellen, das wir dringend benötigen", sagt er: "Und in fünf Jahren werden die Pisa-Ergebnisse noch viel schlechter ausfallen."

Diese sind schon jetzt bescheiden. Obwohl mehrheitlich in Österreich geboren oder schon länger im Land, fallen Migrantenkids bei den Leistungen stark ab. Der Rückstand auf die autochthonen Gleichaltrigen entspricht zwei bis drei Lernjahren – Aufholprozess zeichnet sich nicht ab. Laut Daten des IHS-Forschers Mario Steiner zählt letztlich fast jeder und jede Dritte, die nicht aus der EU stammt, zur Kategorie der frühen Bildungsabbrecher, was schlechte Karten für die Berufskarriere – und somit auch den LebensStandard – bedeutet.

Zu wenig Schule ist teuer

Die Folgen lassen sich in barer Münze abbilden, wie eine Studie des Soziologen Johann Bacher von der Uni Linz zeigt. Hochgerechnet auf alle 18- bis 24-Jährigen, die zwischen 2017 und 2021 keinen Bildungsabschluss über die Pflichtschule hinaus schafften, betrugen die gesamtwirtschaftlichen Kosten demnach 1,1 Milliarden Euro pro Jahr. Der öffentlichen Hand entgingen an Steuereinnahmen oder Sozialversicherungsbeiträgen noch einmal 460 Millionen Euro, den Unternehmen 250 Millionen, weil die jungen Leute als produktive Arbeitskräfte ausfielen. Und das ist nur eine Momentaufnahme.

Für Bacher ist daher klar, dass schon früher "präventiv in Bildung investiert werden muss. Der Bund muss den Schulen rasch ausreichend Ressourcen geben – sozialindiziert." Also mehr Mittel für jene, die mehr sozial benachteiligte und nicht deutschsprachige Kinder betreuen. Auch höhere Gehälter für Lehrkräfte, die an diesen besonders belasteten und belastenden Standorten arbeiten, nennt er. "Außerdem wird es eine Umverteilung in Richtung Wien geben müssen."

Gemeint sind dabei die finanziellen Ressourcen, wohlgemerkt. Denn was Flüchtlinge betrifft, fordert Wiens Regierung eine Umverteilung in die Gegenrichtung: Eine Wohnsitzpflicht solle dafür sorgen, dass Asylberechtigte ohne Job für drei Jahre in jenem Bundesland leben müssten, wo ihr Verfahren stattgefunden hat. Die anderen Länder müssten die Hauptstadt dringend entlasten.

Als kurzfristige Maßnahmen schlägt Bacher Schichtbetrieb in Schulen vor, falls Räume oder Personal knapp sein sollten, inklusive doppelten Gehalts für die betroffenen Lehrkräfte. Dazu sollten pensionierte Lehrer oder Studierende für Korrekturarbeiten einspringen.

"Deutsch lernen braucht Zeit"

Generell hält der Bildungsforscher 250 Jahre nach Einführung der Schulpflicht durch Maria Theresia die Einführung einer Ganztagsschule für unerlässlich. Denn: "Deutsch lernen braucht Zeit." Doch die ist nicht gewährleistet, wenn Kinder in Familien und mit Freunden nur die Muttersprache verwenden. "Sprachkenntnisse kann man nicht oder nur sehr schwer ohne Ganztagesstruktur in angemessener Zeit erwerben", sagt Bacher, der dafür auch eine Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre für "sicher hilfreich" hält.

Richtschnur müsse die UN-Kinderrechtekonvention sein: "Kinder haben ein Recht auf Bildung. Der Staat muss gewährleisten, dass jedes Kind ein Bildungsminimum erreicht, das ihm ein selbstbestimmtes Leben und auch soziale wie demokratische Teilhabe ermöglicht."

"Die Kapazitäten der Schulen sind großteils komplett ausgeschöpft. Auch in den Zentralräumen abseits von Wien ist das System schon jetzt vollkommen überlastet." Gewerkschafter Paul Kimberger

Diesen Aspekt betont auch Pflichtschullehrergewerkschaftschef Paul Kimberger. "Es ist nicht nur eine Frage der Sprachförderung, es geht auch um Demokratie und unsere Werte." Da sei eine Grenze erreicht: "Wir sind am Anschlag." Als Christgewerkschafter steht der Linzer Kimberger zwar der Kanzlerpartei ÖVP nahe, warnt die Bundesregierung aber dennoch davor, Integrationsprobleme als reines Wien-Thema zu sehen. Auch auf andere Bundesländer kämen "alarmierende Zahlen" zu. Allein in Oberösterreich lägen 3600 Anträge auf Familiennachzug auf dem Tisch, 80 Prozent aus Syrien: "Die Kapazitäten sind aber großteils komplett ausgeschöpft. Auch in den Zentralräumen abseits von Wien ist das System schon jetzt vollkommen überfordert."

Wenn nun mit Containerklassen oder womöglich einer Überschreitung der Klassenschülerzahl 25 Abhilfe geschaffen werden solle, bedeute das: "‚Mission impossible‘ aufgrund politischer Konzeptlosigkeit. Container sind keine Lösung, weil wir das Personal nicht haben. Und noch mehr Kinder in der Klasse – das ist weit über der Grenze des pädagogisch Machbaren." Schließlich kämen viele der syrischen Kinder aus Flüchtlingslagern und hätten "noch nie ein geordnetes Leben gehabt. Das sind gigantische Herausforderungen."

Steuern – oder weiterwurschteln?

Kimberger sieht ein politisches Steuerungsproblem: "Wir müssen die Lasten gleichmäßiger verteilen." Dass Wien und Linz die Möglichkeit abgeschafft haben, Schülerinnen und Schüler den abgegrenzten Einzugsgebieten der jeweiligen Schulsprengel ihrer Wohngebiete zuzuteilen, sei ein Fehler gewesen. "Damit hat die Politik ein Steuerungsinstrument aus der Hand gegeben." Für ihn ist klar: "Allein werden die Schulen das nicht schaffen. Politik, Behörden, außerschulische Organisationen und Vereine müssen uns bei dieser Aufgabe viel mehr unterstützen, die gesamte Gesellschaft."

Auch Christian Klar, Schuldirektor in Wien, bewertet die Lage alles andere als entspannt: Er sei versucht, zu sagen, dass der neuerliche Schwung an Zuzug weder vom Platz noch von den Lehrkräften her zu bewältigen sei. Doch irgendwie werde man weiterwurschteln – indem etwa die Anforderungen für zusätzliches Personal gesenkt oder Klassen so vollgestopft würden, dass sich der einzelne Pädagoge um niemanden mehr wirklich kümmern könne: "Der Preis wird sinkende Qualität sein."

Schon jetzt sei das Niveau niedrig, beobachtet Klar an seiner Mittelschule im Bezirk Floridsdorf. Mehrstellige Divisionen etwa überforderten viele Viertklässler, manche scheiterten auch am Ende der Schulpflicht noch am sinnerfassenden Lesen. Allerdings ertöne die Klage, dass Lehrer immer weniger verlangen könnten, seit jeher, relativiert er. Dieses vielschichtige Problem sei nicht allein auf die Migration zu schieben – sondern etwa auch darauf, dass der Stellenwert von Leistung generell sinke.

Islam gewinnt an Terrain

Klar, der sich politisch für die ÖVP engagiert, spricht in den Medien seit vielen Jahren offen, ohne den Vorbehalt der Anonymität über den Schulalltag – und spart auch andere Facetten des Integrationsproblems nicht aus. Von nationalistisch motivierten Gewaltausbrüchen berichtete er oder zuletzt von muslimisch grundiertem, via Tiktok befeuertem Antisemitismus infolge des Gazakriegs. Der Kampf der Schule gegen solche Auswüchse sei nicht vergeblich, sagt der Direktor, Handgreiflichkeiten etwa habe man mit Konsequenz gut in den Griff bekommen.

Doch ein Trend sei ungebrochen. Ob auf Druck einzelner selbsternannter Sittenwächter oder aus der Gruppendynamik heraus: Der Islam gewinne in ausgeprägter Form an Terrain. Kopftücher breiteten sich aus – und rahmten die Gesichter immer enger ein.

Die Lehrerschaft äußert einhellige Wünsche.
Heribert Corn

Erzählungen wie diese sind von vielen Seiten zu hören, von Pädagogen wie von Eltern. Fast schon ein Klassiker ist die Anekdote, wonach Lehrerinnen bereits von kleinen Buben nicht für voll genommen würden und von männlichen Mitgliedern muslimischer Familien konsequent den Handschlag verweigert bekämen. Doch anders als die Leistungsdefizite lassen sich diese Phänomene schwer quantifizieren. Die Einschätzungen reichen von "Einzelfall" bis zu "gängiger Praxis".

Die Wünsche der Lehrerschaft sind einhelliger. Kaum eine Stimme, die nicht mehr Personal an den Schulen fordert – von Sozialarbeitern über Psychologen bis zu regulären Pädagogen. Statt nur für einzelne Stunden müsse es für den gesamten Unterricht Standard werden, dass zwei Lehrkräfte gemeinsam in der Klasse stünden, fordert eine Volksschullehrerin. Dann könne die eine den allgemeinen Lernstoff vorantreiben, während sich die andere um Kinder kümmert, die sprachlich nicht mitkommen. Eigentlich sollten diese Schülerinnen und Schüler 15 Stunden pro Woche in Deutschförderklassen büffeln, doch das gehe sich an ihrem Standort mangels Personals nicht aus: "So sitzen sie die meiste Zeit in der Klasse und verstehen nichts."

Was die Politik nicht hören wollte

Seit je her stritten sich die für die Pflichtschulen per se zuständigen Länder mit dem gesamtstaatlich verantwortlichen Bildungsministerium darüber, wer eine bessere personelle Ausstattung zu bezahlen habe, sagt Gewerkschafter Bulant. Doch selbst wenn nun mehr Posten finanziert würden, ließen sich diese mangels ausgebildeter Lehrerinnen und Lehrer vielfach gar nicht besetzen: "Diesen drohenden Mangel haben Politiker 30 Jahre lang Schulter an Schulter missachtet."

Da sieht auch Simone Naphegyi eine Ursache für die jetzige Misere. "Die Politik hat nicht hören wollen, wovor sie seit langem gewarnt wurde: Wir haben viel zu wenige Lehrkräfte", sagt die Professorin der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg. Unlängst habe sie mit einer Lehrerin gesprochen, die vor 30 Jahren zu studieren begonnen habe: "Sie erinnert sich noch gut daran, wie ihr damals gesagt wurde, sie würde nie einen Job finden."

Nun trifft Personalmangel auf Handlungsdruck. "Wir müssen gut aufpassen, dass das jetzt nicht kippt", warnt die Expertin mit Blick in die Vergangenheit. Da gibt es Anknüpfungspunkte, aus denen gelernt werden könnte. Naphegyi hat die Schulentwicklungsprozesse zur sprachlichen Bildung und Deutschförderung im Verlauf von 50 Jahren Anwerbeabkommen bis zur Fluchtmigrationsbewegung 2015 an Volksschulen in Vorarlberg analysiert.

Überforderung der Lehrkräfte

In den 60er-Jahren waren viele Gastarbeiter aus der Türkei und Ex-Jugoslawien ins Ländle geholt worden, da die Textil- und Metallindustrie sie brauchte. Ihre Töchter und Söhne landeten in Schulen, "die damit völlig alleingelassen wurden, wenn nach den Sommerferien mitunter 60 türkische Kinder auftauchten", schildert Naphegyi: "Sie haben aufgrund der Überforderung der Lehrkräfte und der wenig strukturierten Maßnahmen nicht die Förderung erhalten, die sie gebraucht hätten." Die Basis für "Bildungsbenachteiligung" war gelegt.

Jetzt sei Überlastung sowieso schon die Grundstimmung in den Schulen – und erneut drohe "Verantwortungsverlagerung auf die Mikroebene, indem man es den Schulen und Lehrkräften überlässt, irgendwie damit klarzukommen", warnt die Bildungsforscherin.

Schüler in Wien
Welcher Weg führt in eine lichtere Zukunft? Von allen Seiten ertönt der Ruf nach mehr Personal in den Schulen – doch das ist schwer zu finden.
Heribert Corn

Naphegyi erinnert an die große Flüchtlingsbewegung von 2015. Damals war sie selbst gerade Direktorin einer Volksschule in Feldkirch. Es war die Zeit des "Wir schaffen das!". Tatsächlich sieht sie 2015 als "Wendepunkt", denn: "Die Schulen haben zum ersten Mal wahrgenommen, dass sie nicht allein zuständig sind. Wir fühlten uns sehr gut unterstützt. Allerdings war die Personalsituation damals völlig anders. Aber da wurde alles mobilisiert."

Heute sei die Lage ungleich schwieriger, umso mehr gelte: "Die Schule kann es nicht allein leisten." Naphegyi empfiehlt "neue Wege, neue Modelle", um zusätzliche, auch mehrsprachige Kräfte zu gewinnen und außerschulische Hilfe einzubeziehen: "Auch Vereine und Ehrenamtliche, die mit Kindern arbeiten, können einen Beitrag zum Spracherwerb leisten."

Bund-Länder-Stückwerk

Und die verantwortlichen Stellen? Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) verweist auf STANDARD-Anfrage lediglich auf bestehende, "alte" Mittelzusagen des Bundes für Wien. Das psychosoziale Unterstützungspersonal etwa sei seit 2022 um 40 Prozent aufgestockt worden. Zudem bestehe weiterhin die im Zusammenhang mit den Ukraine-Flüchtlingen signalisierte Bereitschaft, bei der Schaffung von Schulraum zusammenzuarbeiten.

Die Wiener Bildungsdirektion hat Orientierungsklassen für Kinder ohne Schulerfahrung geschaffen, Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos) präsentierte ein Fünf-Punkte-Programm zur Deutschförderung, das vom Ausbau der Ganztagsschulen bis zu Sprachprogramme im Kindergarten reicht. Man sei sich bewusst, dass das Unterstützungspersonal aufgestockt werden müsse, heißt es aus Wiederkehrs Büro – im Fall der Schulpsychologie sei aber der Bund zuständig. Auch die Stadt verweist auf die gestiegene Zahl der Sozialarbeiter, außerdem sei jede Schule mit einer Teilzeitkraft zur Bewältigung der administrativen Aufgaben ausgestattet worden. Aber ja: Der Ausbau werde weiter vorangetrieben.

Für Yusuf und viele andere Schülerinnen und Schüler wird das jedoch zu spät kommen. (Lisa Nimmervoll, Gerald John, 20.4.2024)

Anmerkung: Aus Versehen war aus dem Artikel jener Absatz verschwunden, in dem der Lehrergewerkschafter Thomas Bulant vorgestellt wird. Dieser wurde nun wieder ergänzt. Wir bedauern die Panne.